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Menschenteufel

Menschenteufel

Titel: Menschenteufel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Raffelsberger
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etwas zu finden.
Irgendetwas. Als schwebte der Geist des Toten noch über dem Ort. Ein
unsichtbarer Wächter, der nicht ruhen konnte. Der etwas sagen könnte. Sein
Geheimnis mitteilen wollte. Einflüstern. Damit er Frieden fand. Die Altvorderen
hatten an Eingebungen geglaubt. Als Geschenk der Ahnen, die sie überall
umgaben. Ganz tief in uns hat dieser Glaube die Aufklärung überlebt, dachte
Freund. Zugedeckt von Jahrhunderten der Vernunft. Bis Verzweiflung oder
Hoffnung ihn wieder ausgruben.
    Warum hier?
    Der Geist blieb stumm.

Ich bin viele
    Das Gesicht kam ihr nun doch bekannt vor.
    Sie wusste nicht, woher. Soweit ihr Zustand es zuließ, versuchte sie
sich zu erinnern. Aus der jüngeren Vergangenheit stammte es nicht. Nicht aus
den letzten Jahren.
    »Bekannt« war vielleicht das falsche Wort. »Vertraut« traf den
Zustand eher. Vielleicht hatten sie eine Chance, wenn ihr sein Name einfiel.
Wenn sie ihn mit etwas Persönlichem ansprechen konnte.
    Ihre Gedanken schweiften ab. Wurden zerschossen. Von den Bildern der
letzten Tage. Unwillkürlich fing sie an zu zittern und zu schluchzen. Die
Blicke der beiden anderen hatten nichts Böses, Verächtliches, Warnendes mehr.
In ihnen spiegelte sich nur der nackte Horror.
    Sie hatten zusehen müssen. Oder wenigstens zuhören. Was mindestens
ebenso schrecklich gewesen war. Sie wusste nicht, wie lange die Prozedur
gedauert hatte. Ihr war es wie Tage vorgekommen. Sicher waren es ein paar
Stunden gewesen.
    Danach war von dem alten Mann nur mehr die Hälfte übrig. Die andere
hatte der Mann in Weiß weggebracht aus dem Raum, gemeinsam mit den Überresten
des Ziegenbocks.
    Sie selbst musste ihr halbes Körpergewicht ausgeschwitzt oder über
Augen und Nase abgegeben haben. Sie durften sich nicht reinigen. Da saß sie in
ihrem Tage alten, getrockneten, immer wieder aufgeweichten und neuerlich
eingetrockneten Schweiß und Rotz. Wenigstens die Klebebänder um den Mund nahm
er ihnen öfter ab.
    Er war nicht die ganze Zeit bei ihnen. Lange Stunden verschwand er,
dann kehrte er wieder, brachte sie einzeln zu dem Kübel im Nebenraum und band
sie wieder an die Stühle um den Tisch. Gab ihnen ein wenig zu essen und zu
trinken. Zuerst hatte sie nicht geglaubt, noch einmal in ihrem Leben Nahrung
bei sich behalten zu können. Doch noch kämpfte der Überlebensdrang in ihr.
    Am schlimmsten war die Ungewissheit. Was hatte er mit ihnen vor?
Dasselbe wie mit Wuster? Der Gedanke daran schnürte ihr die Brust zur
Atemlosigkeit zusammen.
    Bis vor einer Stunde. Als er dieses neue Tier gebracht hatte. Einen
großen Laufvogel. Sie kannte sich nicht gut aus. Vielleicht war es ein Vogel
Strauß. Vielleicht etwas anderes.
    Er hing an dem Haken, wo schon der Ziegenbock gebaumelt hatte.
Seitdem war klar, was als Nächstes geschehen würde. Sie wussten nur nicht,
wann. Und mit wem. Verzweifelt rissen sie an ihren Fesseln. Ihre Hände spürte
sie kaum mehr, so sehr schnürte sie sich selbst das Blut ab. Ein hoffnungsloses
Unterfangen.
    Ihr Atem flatterte.
    »Bitte, lassen Sie uns gehen«, schluchzte sie. Erkannte ihre eigene
Stimme nicht wieder.
    Durch die Tränen nahm sie sein Gesicht nur verschwommen wahr. Es
beugte sich ganz nahe vor ihres.
    »Darum habe ich damals auch gebeten«, antwortete er sanft. »Viele,
viele Male. Geholfen hat es nichts.«
    Die Stimme. Diese Stimme. In diesem Moment wusste sie. Glaubte zu
wissen. Hoffte. Ein unscharfes Bild erschien vor ihrem inneren Auge. Wurde
nicht klarer.
    »Genauso wenig wird es euch helfen.«
    Er richtete sich wieder auf und wandte sich ab. Hantierte weiter am
Tisch, sie erkannte nicht, womit.
    Die Deutlichkeit versetzte sie in eine schockartige Starre. Wieder
tauchte das schemenhafte Gesicht aus ihrer Erinnerung auf, für einen Moment.
Wenn er es war …
    Sie musste es riskieren.
    »Bist … bist du das, Norman?«
    Ihr schien, dass er für einen Moment stockte. Einbildung?
    »Wenn du das bist, du bist es, nicht wahr, dann lass uns reden, ich
weiß nicht, was mit dir passiert ist, was man dir angetan hat, ich kann nur
sagen, dass doch nichts das rechtfertigt, was du jetzt gerade …«
    Er hatte sich umgedreht und kam auf sie zu. In den Händen hielt er
einen grauen Gegenstand.
    »Du weißt es ganz genau. Ihr habt getan, was ihr wolltet. Ihr wart
die Götter. Ich war nichts. Heute ist es umgekehrt.« Er lachte auf. »Nein! Das
würde ich mir nie anmaßen. Ich bin kein Gott. Aber ihr, ihr seid nicht einmal
Menschen.«
    Seine Stimme sank zu einem Zischen.

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