Menschenteufel
dünnen Mappe aus braunem Karton zurück.
»Sehr viel steht nicht drin«, erklärte sie denn auch gleich bei der
Übergabe.
Petzold nahm sie in Empfang und setzte sich an einen der Lesetische.
Neugierig schlug sie den Ordner auf.
Darin fand sie genau zwei vergilbte Blätter, bedeckt mit tanzender
Schreibmaschinenschrift. In dürren Worten beschrieben sie die Auffindung des
Corporals Alvin Tomlins am Morgen des 18. März 1948 in einer Bombenruine
des neunten Bezirks. Er war von dem vierzehnjährigen Johann Braudek, geboren
1934 in Koˇsice, mit zwei Schüssen in der Brust auf dem Bauch liegend
aufgefunden worden.
Petzold entdeckte keine Tatortfotos, aber die machte man damals
vielleicht nicht oder hatte in den mageren Nachkriegsjahren kein Material zur
Verfügung. Keine Protokolle von Zeugenbefragungen. Kein Obduktionsergebnis.
Keine Bilder der tödlichen Projektile.
Sie las den Text noch einmal, in der Hoffnung auf irgendeinen
Hinweis. Vergeblich.
Enttäuscht schlug sie die Mappe zu und gab sie zurück.
Ein Name war alles, was sie hatte: Johann Braudek, ein damals
Jugendlicher, musste heute Mitte siebzig sein. Wenn er noch lebte.
Von der Autobahn rauschte der Verkehr. Petzold drückte sich in
den schmalen Schatten vor dem Archivgebäude. Die Luft über dem Asphalt
vibrierte.
»Tust du mir einen Gefallen? Ich brauche dringend eine
Personeninformation.«
»Moment«, antwortete Präbichler. Durch das Telefon hörte sie ihn am
Computer tippen.
»Johann Braudek«, sagte sie und buchstabierte den Namen. »Geboren
1934 in Koˇsice, heute Slowakei, wenn mich nicht alles täuscht. 1948 wohnhaft
in Wien.«
Wieder das Klicken der Computertastatur in ihrem Ohr. Ein paar
Sekunden lang blieb es still. Bis Präbichler erklärte: »Habe ihn.«
»Super! Ich brauche die Adresse.«
»Zentralfriedhof. Er ist vor zwei Jahren gestorben.«
Dann hörte der Mensch auf
Eigentlich hätte Freund diesen Mittag genießen müssen. In den
Garten schien die Sonne, sein Vater hatte sich nach dem frühen Mittagessen,
bereitet durch die Pflegerin, zu einem Schläfchen in sein Zimmer zurückgezogen.
Claudia war im Büro, die Kinder im Krapfenwaldbad.
Laurenz Freund hatte Zeit nur für sich allein. Er konnte sich nicht
erinnern, wann er das zuletzt erlebt hatte.
Abwesend begutachtete er die Paradeisersträucher an der Südseite der
Hütte. Claudia hatte die Samen nach dem Besuch der barocken Schaugärten der
Arche Noah im Waldviertel erworben. Fasziniert hatten sie dort die Vielfalt
zahlreicher fast ausgestorbener Kulturobst- und Gemüsesorten kennengelernt.
Seither träumte sie von einem eigenen kleinen Paradies der Unterschiede in
ihrem Garten. In allen Farben und Formen wuchsen die Paradeiser vor der
Holzwand an Stangen hoch. Keiner ähnelte der Supermarktware aus spanischen
Glashäusern. Da gab es kleine gelbe, längliche violette oder orangefarbene in
Birnenform. So unterschiedlich wie die Formen entfalteten sich auch die
Geschmäcker. Sollte dem diesjährigen Versuch Erfolg beschieden sein, plante
Claudia für das nächste Jahr umfangreiche Beete mit mehr Sträuchern und
weiteren Sorten, auch von verschiedenen Paprikavarietäten. Außerdem wollte sie
am Rand des Weingartens diverse Marillen-, Apfel- und Birnensorten pflanzen,
die man selbst auf ausgesuchten Marktständen nicht mehr fand. Nächster Schritt
würde wohl die Eröffnung eines kleinen Weingartenstandes am Wochenende sein,
ahnte Freund. Unter einem Sonnenschirm an einem Tisch mit Obst- und
Gemüsekisten sitzen, mit Spaziergängern plaudern, das eine oder andere Gläschen
Most trinken, so konnte er sich Claudia genauso gut vorstellen wie in ihren
Businesskostümen.
Für zwei Uhr hatte er sich mit einem der Pflegerpärchen verabredet,
dessen Nummer Frau Ivenhoff ihm gegeben hatte. In seinem Inneren spürte er
einen starken Widerwillen gegen ihr Engagement. Bei der Polizei würde es für
ihn ohnehin nicht mehr aufwärtsgehen. Vielleicht sollte er sich für eine Weile
karenzieren lassen. Mehr Zeit mit Clara, Bernd und Claudia verbringen. Und mit
seinem Vater. Wer wusste schon, wie viel ihnen noch blieb. Endlich die Bücher
lesen, die schon so lange neben seinem Bett warteten.
Er pflückte einen kleinen gelben Paradeiser, der in seiner
zerfurchten Form an einen winzigen Kürbis erinnerte, und steckte ihn in den
Mund. Den Geschmack kannte er schon: süß, mit einer erfrischend säuerlichen
Note, ähnlich einer Physalis.
Er versuchte den Groll gegen seinen Vater
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