Menschliche Kommunikation
Theorien auch heute noch vom egozentrischen
Standpunkt aus formuliert werden. So kennt die Psychoanalyse
das Ich, das Über-Ich und das Es, aber kein «Du». Meinem Ego
steht jedoch ein Alter gegenüber, und vom Standpunkt des Alter
ist mein Ego das Alter. Dadurch wird die Sicht, die der andere von
mir hat, ebenso wichtig (zumindest in engen persönlichen Beziehungen) wie die, die ich von mir selbst habe, und diese beiden Sichten sind bestenfalls mehr oder weniger ähnlich. Dieses «mehr
oder weniger» aber bedingt wie kein anderer Faktor unsere
Beziehung und damit mein (und sein) Gefühl, vom anderen verstanden zu sein und somit eine Identität zu haben:
Ein Mann hat vielleicht das Gefühl, dass seine Frau ihn nicht versteht.
Was kann das bedeuten? Es kann bedeuten, dass er glaubt, sie begreife
nicht, dass er sich vernachlässigt fühlt. Oder er nimmt an, dass sie nicht
begreift, dass er sie liebt. Vielleicht glaubt er auch, dass sie ihn geringschätzt, während er bloß vorsichtig sein will; dass sie ihn für lieblos hält,
wenn er standhaft sein will; dass er selbstsüchtig ist, nur weil er nicht zum
Fußabstreifer gemacht werden will.
Seine Frau hingegen kann das Gefühl haben, er glaube, sie halte ihn für
selbstsüchtig, wenn sie ihn ein wenig aus seiner Reserviertheit herausbringen will. Möglicherweise glaubt sie auch, dass er glaubt, sie halte ihn
für lieblos, weil sie das Gefühl hat, dass er alles, was sie sagt, als Anklage
auffasst. Oder sie glaubt, dass er sie zu verstehen glaubt, während sie
glaubt, dass er sie noch nie als wirkliche Person gesehen hat usw. [89,
S. 23].
Dieses Beispiel vermittelt uns bereits ein gutes Bild von der komplexen Struktur derartiger Auseinandersetzungen sowie der
ihnen eigenen Blindheit und den ihnen folgenden Gefühlen von
Misstrauen und Verwirrung. Was diese Beziehungsblindheit therapeutisch so schwer angehbar macht, ist die Tatsache, dass (wie
in Abschnitt 1.2 ausgeführt) Beziehungen eben nicht konkrete
Größen sind, sondern - wie mathematische Funktionen - irreale
Entitäten. Sie sind also nicht in demselben Sinn real wie Objekte
gemeinsamer Wahrnehmung. Diese können Gegenstand digitaler
Auseinandersetzungen sein, sie sind sozusagen etwas «dort draußen», auf das man hinweisen kann. In Beziehungen dagegen sind
wir selbst enthalten; in ihnen sind wir nur Teil eines größeren
Ganzen, dessen Totalität wir ebenso wenig erfassen können, wie
es unmöglich ist, seinen eigenen Körper als Ganzes wahrzunehmen, da die Augen als Wahrnehmungsorgane selbst Teil der
wahrzunehmenden Ganzheit sind. Wenn die «Organe» zwischenmenschlicher Wahrnehmungen darüber hinaus aber noch skotomisiert sind, so müssen aus dieser Blindheit Konflikte erwachsen, für die es nur einen von zwei möglichen Gründen zu geben
scheint: Böswilligkeit oder Verrücktheit (die englische Sprache
hat dafür die ungleich prägnantere Alternative badness or madness). Wie Laing und seine Mitarbeiter gezeigt haben, sind diese
Beziehungskonflikte Gestalten, deren Verständnis viele klinische
Bilder der traditionellen Psychopathologie in völlig neuen Sinnbezug rücken.
Die folgende Beschreibung der Beziehung des Schizophrenen
zu seiner Mutter dient nicht nur zur Erhellung des eben Gesagten, sondern beweist gleichzeitig, wie schwer es ist, derartige
Sachverhalte in digitaler Sprache auszudrücken:
Der Schizophrene versteht den Standpunkt seiner Mutter besser als sie
den seinen.
Der Schizophrene begreift, dass seine Mutter nicht begreift, dass er ihren
Standpunkt versteht,
und dass sie glaubt, seinen Standpunkt zu verstehen,
und dass sie nicht begreift, dass sie ihn nicht versteht.
Die Mutter dagegen glaubt, dass sie den Standpunkt des Schizophrenen
versteht
und dass der Schizophrene den ihren nicht versteht,
und sie weiß nicht, dass der Schizophrene weiß, dass sie das denkt und
dass sie nicht weiß, dass er es weiß [89, S. 47].
Ego und Alter stehen sich so verständnislos und in wachsender
Entfremdung gegenüber, einer Entfremdung, deren zwischenpersönliche Struktur sich der individuellen Wahrnehmung entzieht
und deren Folgen daher dem anderen zugeschrieben werden.
Laing und Esterson haben ein reichhaltiges klinisches Material über das Phänomen der Beziehungsblindheit und ihre pragmatischen Folgen bei elf von ihnen eingehend studierten Familien
veröffentlicht [88]. Das folgende Beispiel zeigt jene krasse Diskrepanz zwischen der Definition einer
Weitere Kostenlose Bücher