Mephistos Erben: Kriminalroman (German Edition)
›Der Sohn des Hauses‹, sagte sie nur. Ihr Verhalten irritierte mich, die Situation schien, als sei ich der Eindringling in ihre Welt. Gleichwohl fiel ich offenbar als älterer Bruder von Susanna in die Kategorie ›begehrtes Objekt‹. Eines Abends schlich sie ohne Vorankündigung in mein Zimmer, schloss die Tür und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Sie blickte mich mit unbewegter Miene an, zog sich den Pullover über den Kopf und ließ ihn auf den Boden fallen.«
Lea war verwundert über die ausführliche Schilderung. Sie überlegte, wie sehr diese Begebenheit Alexander van der Neer beschäftigt haben musste, wenn er mit ihr so offen über diese Dinge sprach. Herr van der Neer schluckte und fuhr fort.
»Sie war nicht attraktiv, aber sie hatte etwas Aufreizendes, sie war an Sex und dem Spiel mit Macht interessiert. Sie stand an der Tür und wartete auf meine Reaktion …«
Ach du liebe Güte! Routinemäßig hatte Lea auf ihre Armbanduhr geschaut. Schon Viertel nach vier! In einer Stunde würde Frederike von ihrem Schulausflug zurückkehren und am Mainzer Hauptbahnhof eintreffen.
»Herr van der Neer, es tut mir schrecklich leid, dass ich Sie unterbrechen muss, ich muss zum Bahnhof…«
Sogleich erhob sich ihr Gegenüber. »Entschuldigen Sie bitte, das ist meine Schuld, meine Erzählung war ausschweifend. Ich will Sie damit nicht mehr behelligen.«
Er wandte sich zur Tür. Lea stand ebenfalls auf. Susanna van der Neers Bruder wirkte aufgewühlt und ertrug es offensichtlich kaum, die Reglements des höflichen Umgangs übertreten zu haben. Sicherlich geschah es nicht häufig, dass ihn Emotionen überwältigten.
»Herr van der Neer, bitte, warten Sie doch. Ich möchte die Geschichte Ihrer Schwester, Ihre Geschichte hören. Außerdem habe ich Ihre Fragen noch nicht beantwortet.«
Das schien ihm erst jetzt, als Lea es aussprach, aufzufallen.
»Ja, entschuldigen Sie, es ist nur so, dass ich es nicht fassen kann, dass Susanna wirklich tot ist. Es ist sonst nicht meine Art, so zu erzählen.«
Diesen Eindruck hatte Lea auch, und bevor sie genauer darüber nachdachte, hörte sie sich fragen: »Wie wäre es morgen in der Mittagspause, wir könnten uns am Schillerplatz im Café treffen.«
Er schien zu überlegen, ob er das Angebot annehmen durfte.
»Gerne« sagte er schließlich, »aber nur, wenn es Ihnen nicht zu viel wird.«
»Ich sage rechtzeitig Bescheid«, erwiderte Lea. »Ich verspreche es.«
Mit einem kurzen Händedruck verabschiedete sich Alexander van der Neer.
Wenn das so weiterginge, würde sie sämtliche Pausen in Cafés oder Restaurants verbringen und sich mit einer Angelegenheit beschäftigen, die sie lieber abschließen sollte, dachte Lea. Aber die professionelle Distanz war ihr im Moment gleichgültig.
Als Lea die Praxis verlassen wollte, stellte Frau Witt noch Franz Bender durch.
»Herr Kommissar, gibt’s was Neues? Ich bin leider etwas in Eile.«
Kommissar Bender kam daher gleich zum Punkt. »Die Spurensicherung hat Reste von Tabletten mit dem Inhaltsstoff Cyclobarbital an den Händen der Toten und an dem Stofftaschentuch auf dem Couchtisch gefunden. Das Präparat wird in dieser Stärke hier in Deutschland nicht mehr verkauft, sagen unsere Laborexperten. Wir werden überprüfen, in welchen Ländern man es in dieser Konzentration beziehen kann, oder ob solche Substanzen auf dem Schwarzmarkt im Umlauf sind. Das wissen in der Regel die Kollegen vom Drogendezernat.«
»Und das Stofftaschentuch? Gibt es eine Möglichkeit, es auf DNA-Spuren zu untersuchen?«, fragte Lea.
»Das ist bereits geschehen. Leider war es unbenutzt. Doch Fingerabdrücke sind auf Fasern ohnehin nicht festzustellen, aber es fanden sich Reste des Cyclobarbitals in den Falten. Wir haben das weiße Taschentuch nach dem Faltenverlauf in seine ursprüngliche Form zusammengelegt. In seiner gefalteten Form passt es genau zu einer kleinen Seitentasche mit Reißverschluss in Frau van der Neers Handtasche. Unsere Kollegen von der Spurensicherung haben zwei faserartige Strukturen gefunden, zum einen schwarze Textilfasern, die mit dem Innenfutter der Handtasche von Frau van der Neer übereinstimmen, zum anderen ein Haar, das bezüglich Struktur, Stärke und Haarfarbe nicht von Frau van der Neer stammen kann.«
»Und was fängt man mit so einem Haar an?«
»Das geht nach Wiesbaden zur DAD des Bundeskriminalamtes«, sagte Bender.
»DAD?«
»DNA-Analysedatei. Man kann heutzutage auch aus Haaren ohne Haarwurzel mittels einer
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