Mephistos Erben: Kriminalroman (German Edition)
Situationen, in denen sie sich öffnete.«
»Gab es irgendetwas im Verhalten Ihrer Schwester, in Gesprächen oder Briefen, was ein Hinweis auf eine Verzweiflungstat sein könnte?«, fragte Lea.
»Nein, nicht in letzter Zeit. Ich hatte eher den Eindruck, Susanna habe sich wieder gefangen. Früher gab es häufiger Anlass zur Besorgnis.«
Er drückte sich vorsichtig aus, und Lea hatte den Eindruck, dass er sich selbst schonen wollte.
»Wissen Sie, in Susannas Leben gab es viele große und kleine Katastrophen. Ich bin mir sicher, dass ich vieles nicht weiß. Susanna war ein Mensch, der für den Alltag überhaupt nicht ausgestattet war.«
Herr van der Neer blickte Lea an und wartete anscheinend auf ein Signal. Lea ermutigte ihn mit einem Nicken, fortzufahren.
»Wir waren zu Hause drei Geschwister, mein älterer Bruder Johannes, ich und Susanna. Sie war unser Nesthäkchen. Als Kind schien sie auf einem anderen Stern zu leben. Sie beschäftigte sich mit Märchenwesen, phantastischen Geschichten und lebte in einer Welt voller Klänge. Wussten Sie eigentlich, dass Susanna wunderschön Geige spielen konnte?«
Lea schüttelte den Kopf.
»Sie war ein poetischer Mensch, sehr emotional, sie konnte Erlebnisse so beschreiben, dass man eine andere Wahrnehmung bekam, und …«, er machte eine Pause und lächelte bei der Erinnerung an seine Schwester, »… sie war ein besonderes Wesen. Kam man in Susannas Nähe, wurde man in eine andere Wirklichkeit entführt.« Die Erinnerung an seine Schwester verzauberte sein Gesicht. »Wissen Sie, als Mädchen war sie außergewöhnlich hübsch und als junge Frau eine eindrucksvolle Schönheit. Meine Eltern liebten Susanna, und unser Vater vergötterte sie geradezu. ›Mein Schneewittchen‹ nannte er sie. Sie sah wirklich aus wie Schneewittchen – herrliche schwarze Haare und veilchenblaue Augen.« Herr van der Neer war tief in die Vergangenheit eingetaucht. »Mein Vater nahm Susanna häufig in den Schulferien mit in unser Antiquitätengeschäft in Frankfurt. Sie liebte es, sich mit den alten Gegenständen zu beschäftigen, sich zu überlegen, in welcher Familie die Dinge, die wir ausstellten, benutzt worden waren, wer auf den alten Sofas gesessen und wen die alten Kronleuchter beleuchtet hatten. Ebenso war sie fasziniert von alten Gemälden, die für sie ihre eigene Geschichte erzählten.«
Lea hatte sich zurückgelehnt und lauschte der Schilderung einer glücklichen Kindheit.
»Vielleicht hat Susanna deshalb später Kunstgeschichte studiert, um dies zurückzuholen. In meiner Erinnerung ist damals alles friedlich. Susanna besuchte eine Mädchenschule in Frankfurt und hatte eine unbeschwerte Zeit. Geburtstage, Ausflüge, Geigenunterricht, Familienfeste und diese ganzen üblichen netten, harmlosen Alltagsgeschichten. Doch plötzlich änderte sich unsere Welt.« Stirnrunzelnd ordnete er die lange zurückliegenden Erinnerungen. »Wir waren wohlhabend. Unsere Familie hatte neben dem Antiquitätengeschäft in Frankfurt noch je ein Geschäft in London und in Florenz, mit englischen und italienischen Geschäftspartnern. Nun, in Susannas Klasse kam ein Mädchen von einer anderen Schule, die sich mit ihr anfreundete. Im Nachhinein würde ich sagen, sie drängte sich auf. Ellen. Ellen Jabowski war ihr Name. Sie stammte aus bescheidenen Verhältnissen, der Vater war entweder gestorben oder hatte die Familie verlassen. Obwohl erst sechzehn, trug sie ein abgebrühtes Gehabe zur Schau, sie rauchte Joints und Zigaretten. Vom ersten Tag in der Klasse wich sie Susanna nicht mehr von der Seite. Wir wohnten damals in der Nähe des Palmengartens, und Ellen begleitete Susanna jeden Tag von der Schule nach Hause. Ich hatte nie den Eindruck, dass Susanna ihre Gegenwart wünschte, und schon gar nicht ständig. Diese Ellen ging durch unser Haus und taxierte die Gegenstände nach ihrem Wert, gleichsam auch die Bewohner. Ich traf sie einmal an, als sie in der Bibliothek auf Susanna wartete. Sie hatte sich in den alten Sessel meines Vaters gesetzt, die Beine auf das Polster gezogen. Ich stand in der Glastür, die auf die Veranda führte; sie hatte mich zunächst nicht bemerkt. Sie betrachtete von dem Sessel aus die gefüllten Bücherregale und wirkte, als wäre sie dort zu Hause. Als ich mich bemerkbar machte, war es erstaunlicherweise nicht so, dass sie ihr Verhalten ungehörig oder deplatziert empfand, sie nahm nicht einmal die Füße herunter. Ungerührt blieb sie sitzen und musterte mich herausfordernd.
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