Mephistos Erben: Kriminalroman (German Edition)
gefüllt war, konnte sie sich einfach bedienen und auf einen Stuhl neben dem Fenster setzen.
Weshalb nur nahmen viele Frauen dieses Zuviel in ihrem Leben nicht wahr, wurden depressiv – häufiger als Männer. Wieso dieser Druck, mehrere Lebensentwürfe zu vereinbaren?
Ein Werbespot fiel ihr ein. In der Eingangssequenz stand eine attraktive junge Frau im Businesskostüm, mit dem Handy in der Hand und Kleinkind auf dem Arm in einer beneidenswert aufgeräumten Küche, in der nächsten Einstellung schmetterte sie einer Gruppe von Geschworenen im Gerichtssaal ein brillantes Plädoyer entgegen, bis sie sich schließlich am Abend elegant, sexy und immer noch wie aus dem Ei gepellt mit einem gutaussehenden Mann und einer Tasse Kaffee auf dem Sofa niederließ. Diese Sequenz war für Lea die zugespitzte Zusammenfassung für die Ansprüche an die moderne Frau geworden. Natürlich war jedem bewusst, dass diese Ansprüche weder mit einem gigantischen Kaffeekonsum noch mit anderen Tricks zu erfüllen waren, aber diese Bilder wirkten – und das mit einer Beharrlichkeit, die ohne Zweifel ihre einflüsternde Wirkung nicht verfehlte.
Lea stand auf und schaute aus dem Fenster auf die Augustinerstraße, auf der an diesem Vormittag nicht viele Menschen unterwegs waren. Vor der Augustinerkirche bettelte eine Frau um Kleingeld. Mit gesenktem Haupt und nach vorne gestreckten Händen kniete sie fast regungslos auf den kalten Pflastersteinen.
»Weißt du, warum Frauen mit Frauen strenger sind als Männer?«, fragte Lea Ullrich, als dieser den Kopf in den Sozialraum steckte.
Er grinste. »Auf solch schwierige Themen würde ich mich lieber ausführlich vorbereiten. Du weißt schon: Fettnäpfchen jeder Größenordnung.«
Ullrich steuerte seine Teevorräte an und wählte sich aus einer Unmenge von Sorten eine bestimmte aus.
»Ullrich, bitte!«
»Na gut, ich denke, dass diejenigen Frauen, denen es um die wirkliche Verbesserung der Lebenssituation geht, von den dominanten, herrschsüchtigen und machthungrigen Frauen …«
»Das hört sich furchterregend an.« Lea schnitt eine Grimasse.
Ullrich lachte und sprach weiter »… verdrängt werden, die auf Trends aufspringen und sich in Führungspositionen drängen. Es werden immer die Idealisten von den Machthungrigen verdrängt.«
»Wieso?«
Lea genoss es, wenn Ullrich ihr kleine Vorträge hielt, und wusste, wie sie ihn dazu motivieren konnte.
»Nun, nimm dir mal Voltaire. Er hat sicher mit seinem Kampf um Selbstbestimmung und Meinungsfreiheit die Aufklärung wesentlich mitbestimmt, und seine Ideen wurden auch von Wortführern der Französischen Revolution vertreten. Aber Menschen wie Voltaire und andere Vordenker sind selten machthungrig und außerdem zu differenziert, um Massen zu begeistern. Charismatische und machtbesessene Menschen wie Robespierre und später Napoleon scherten sich natürlich nie um Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Für solche Personen sind Ideale bestenfalls Vehikel, um an die Macht zu kommen.«
»Na ja, findest du es nicht ein bisschen weit hergeholt, Napoleon mit der Frauenbewegung zu vergleichen?«
Lea war daran gewöhnt, dass Ullrich intellektuell in übergroßen Dimensionen unterwegs war. Manche seiner gedanklichen Ausflüge bewegten sich mühelos in Zeitabschnitten von mehreren Jahrhunderten, manchmal sogar Jahrtausenden.
»Wieso nicht? Da gibt es eine Idee, die im Raum steht, viele Menschen anspricht und begeistert. Zudem hat sie genügend Sprengkraft, um das bestehende System zu stürzen. Und jetzt kommen die Machtmenschen ins Spiel und sehen ihre Chance.«
»Aber bei der Frauenbewegung …« So einfach wollte Lea Ullrichs Theorie nicht akzeptieren.
»Doch, doch, überleg doch mal, der Aufbruch der Frauen zu neuen gesellschaftlichen Strukturen bewegte natürlich viele Menschen, insbesondere die weiblichen.«
Lea war noch nicht sicher, worauf Ullrich hinaus wollte.
»Aber erst die Kombination mit politischen Zielen und ideologischen Mixturen hat der Frauenbewegung die Strukturen verschafft, die eine gesellschaftliche Veränderung bewirkt haben. Dass dabei der individuelle Lebensentwurf sich einem kulturrevolutionären Akt zu unterwerfen hatte und Teil des Klassenkampfs wurde, also eines sozialistisch-kommunistischen Konzepts, ist als Mechanismus erstaunlich vielen Frauen verborgen geblieben. Die Kaderstruktur und die politische Rhetorik der Vorzeigefeministinnen sind geblieben – und somit Strukturen von Herrschaft und
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