Mercy, Band 2: Erweckt
mehr in Verzweiflung stürzen.
Das Licht, das von June ausgeht, ist jetzt so grell, dass mir die Augen wehtun. Aber es hat noch immer diesen fahlen, ungesunden Grauton. Während ich auf die verfärbte Aura starre, trifft mich mit einem Mal die Erkenntnis: Das Wesen ist ein Malakh . Das Wort kommt unversehens, ungebeten, als sei es unauslöschlich in meine Seele eingebrannt: eine Seinsform, die ich längst vergessen hatte, deren Name mir aber jetzt, da ich sie vor mir sehe, wieder einfällt. Ein Malakh ist ein niederrangiger Bote, ich kann nicht sagen in welcher Hierarchie. Ich weiß nur, dass er eine Art dienstbarer Geist ist, ein durchtriebener Handlanger, der für Wesen arbeitet, wie ich einst eines war.
Er dürfte gar nicht hier sein. Solche Geister müssen normalerweise unsichtbar bleiben, unergründlich, ihr Wirken geheimnisvoll. Höchstens erscheinen sie Ausnahmemenschen wie Hosea oder Joseph Smith oder Jeanne d’Arc und befehlen ihnen, Berge zu versetzen, Kriege zu führen, den Himmel auf die Erde zurückzuhole n – einfache Dinge dieser Art. Den Normalsterblichen zeigen sie sich im Augenblick des Tode s – als Vorgeschmack auf die Herrlichkeit des ewigen Lichts, das von der heutigen Wissenschaft als Notprogramm eines sterbenden Gehirns abgetan wird. Wie gesagt, es sind Handlanger, Diener. Normalerweise stammen die Nachrichten nicht von ihnen, sie überbringen sie nur. Und sie sind nicht befugt, Besitz von einem Menschen zu ergreifen oder einfach jahrelang unterzutauchen, so wie dieser hier.
„Wie ist dein Name?“, fleht der Malakh. „Und was ist dein Rang?“
Rang? Ich schüttle den Kopf. „Das zu wissen, ist mir nicht gegeben. Ich bin namenlos, staatenlos, sogar vor mir selbst.“
„Wie traurig“, wispert der Malakh. „Und doch haben dir die Elohim ihr Siegel aufgedrückt. Stehst du nicht unter ihrem Schutz?“
Elohim . Das Wort hallt mir seltsam in den Ohren. Ich weiß, dass ich seine Bedeutung kennen müsste, aber wieder ist es, als wäre das Wort gezielt aus meinem Gedächtnis herausgeschnitten worden. Sobald ich versuche, einen Zipfel davon zu fassen, überfällt mich dasselbe Nervenflackern wie bei dem Namen Carmen Zappacosta.
Eintritt verboten. NICHT.ÜBER.DIESE.SCHWELLE.TRETEN.
Es dauert eine Weile, bis die knirschende, außerweltliche Stimme des Malakh durch den Feuersturm in meinem Kopf dringt. „Kannst du dich bei ihnen für mich verwenden?“, fleht er. „Um Gnade für mich bitten? Ich wusste nicht, was ich tat, was es bedeutet, ungehorsam zu sein, die Freiheit zu wählen. Dass ich mir ewige Qualen damit einhandeln würde. Bitte für mich. Bitte die Elohim, mich aus meinem Elend zu erlösen, mir einen sterblichen Körper zu geben, in dem ich meine Tage beenden kan n …“
Ich schüttle hilflos den Kopf.
Das fahle, aber intensive Licht, das von Junes Haut ausgeht, wird jetzt unerträglich stark, es dringt in Wellen nach außen, wie die Strahlung eines sterbenden Sterns.
„Dann wirst du mir also nicht helfen?“, schreit der Malakh, und das unterschwellige Sirren in meinen Knochen wird stechend, das Heiß-kalt-Gefühl übermächtig, das metallische Ping-Ping, das die Kreatur beim Hin- und Herschießen von sich gibt, füllt meinen Geist vollständig aus.
„Ich kann nicht“, keuche ich, „auch wenn ich es noch so sehr will.“ Und helfen will ich ihm wirklich. Die Qualen des Malakh müssen entsetzlich sein und sie werden nie vergehen, wenn er nicht zu Ende bringt, wofür er geschaffen war. Was mag nur seine ursprüngliche Aufgabe gewesen sein und existiert sie überhaupt noch?
Der Malakh verliert jetzt an Kraft. Hat er sich verzehrt? Oder stirbt er sogar? Ich will wegsehen, kann aber nicht. Er schreit, lang und gellend, als würde er auseinandergerissen, und das Licht und die Hitze um ihn herum nehmen unaufhaltsam zu, bis er mit einem gewaltigen Donnerschlag, der von überall und nirgendwoher zu kommen scheint, endlich verpufft.
Das alles könnte ein Traum gewesen sein, wäre da nicht die Frau mit den verbrannten Händen, die auf dem Sitz neben mir bewusstlos zusammengesackt is t – die Frau und der scharfe Schwefelgestank in der Luft.
Neben der „wirklichen Welt“ existiert also eine andere, in der Kreaturen wie der Malakh vorkommen. Aus meinem besonderen, einsamen Blickwinkel scheint es, als vermischten sich die Welten allmählich miteinander.
„Nächster Halt Bright Meadows!“, ruft der Busfahrer, ohne sich umzudrehen.
Ich blicke erschrocken auf.
Der Bus
Weitere Kostenlose Bücher