Mercy, Band 2: Erweckt
schaltet einen Gang herunter, draußen ertönt eine Autohupe, ein gedämpfter Fluch dringt durch das Fenster zu uns herein zusammen mit der heißen, verpesteten Luft. Die Zeit setzt wieder ein und auch die Welt um uns herum. Der Bus fährt weiter durch gewöhnliche Straßen, vorbei an gewöhnlichen Menschen, die gewöhnliche Dinge erledigen. Genau das, was der Malakh sich ersehnt, aber nie bekommen wird.
Ich beuge mich über die Frau, sehe das schwache Flattern ihrer Halsschlagader, richte mich wieder auf und schlängle mich behutsam an ihrer zusammengesunkenen Gestalt vorbei.
„Danke“, murmle ich, als ich am Fahrer vorbeikomme.
„Gern geschehen“, brummt er, dann geht die Tür hinter mir zu.
Der Bus biegt schwankend aus der Haltebucht, mit der ohnmächtigen June an Bord. Ich sehe ihm nach mit einem Gefühl, als tanzte jemand auf meinem Grab. Bin ich vielleicht gerade meinem eigenen Schicksal begegnet? Werde ich in vielen Hundert Jahren so sein?
Kapitel 7
Bedrückt schleppe ich mich über die Straße zu Lelas Haus. Ein Malakh. Mein Wissen ist nebelhaft, aber ich glaube nicht, dass ich mich jemals in denselben Kreisen bewegt habe wie diese Kreaturen. Wir waren nie in derselbe n … Kast e – ein besseres Wort fällt mir nicht ein. Aber wir sind verwandt, daran besteht kein Zweifel. So wie der Mensch mit dem Bonobo-Affen verwandt ist. Und ich weiß nicht, warum ich nach der langen Zeit plötzlich fähig war, ein Wesen dieser Art wahrzunehmen.
Die Haustür geht auf, noch bevor ich das rostige Tor zum Vorgarten aufgestoßen habe. Eine Frau kommt heraus, eine hagere Gestalt in einer kurzärmligen, blau gemusterten Bluse und einer dunkelblauen Hose. Um den Hals trägt sie eine Uhr an einer Silberkette, und ihr dunkles, ergrauendes Haar ist zu einem strengen Knoten aufgesteckt.
Sie lächelt mich an, und auch ohne sie zu berühren, nehme ich wahr, was in ihrem Kopf vorgeht, wie eine Aura, die sie umgibt, eine Gewissheit. Sie glaubt, dass Mr s Neill heute sterben wird.
„Lela!“, ruft sie erleichtert. „Sie ist den ganzen Tag nicht mehr zu sich gekommen, ihr Puls ist kaum noch tastbar und wird immer schwächer. Ich dachte, es ist vielleicht Zei t … dass Sie gern da sein möchten. Pater Davey war auch schon hier. Er hat gesagt, er kommt jederzeit wieder, wenn Sie ihn brauchen, Sie müssen ihm nur Bescheid sagen.“
Ich stürze den Weg hinauf, an den verkümmerten Zitrusbäumchen vorbei, dem vergilbten, struppigen Rasen und einer vertrockneten Hecke, die nur ein bisschen mehr Pflege brauchen würde, ein bisschen mehr Lieb e – Dinge, die jeder von uns nötig hat. Als ich auf die Veranda komme, legt Georgia einen Arm um meine nackte Schulter, aber ich weiche zurück.
„Ich weiß, das ist schwer, mein Liebes“, sagt sie leise, weil sie meine Abwehr falsch versteht und glaubt, ich weigerte mich, den Tatsachen ins Auge zu blicken. „Aber es war ein langer Weg und sie hat sich so tapfer gehalten. Jetzt ist sie müde.“
Georgia schließt die Tür hinter uns und ich folge ihr den sonnigen, staubigen Flur entlang. Ich frage mich, wie ich angemessen um eine Frau trauern soll, die ich kaum kenne? Wir waren nur wenige Stunden zusammen, nicht mal einen ganzen Tag. Ich selbst hatte nie eine Mutter, eine sanfte, fürsorgliche Person in meinem Leben, die mich allzeit begleitete. Vielleicht hätte es mir gutgetan, wenn da jemand gewesen wäre.
Georgia bleibt vor Mr s Neills Schlafzimmertür stehen. „Sie hat die üblichen Dosen bekommen“, sagt sie sanft. „Nicht mehr und nicht weniger. Halten Sie einfach ihre Hand. Sprechen Sie mit ihr. Sagen Sie ihr alles, was Sie ihr noch sagen wollen. Sie wird Ihnen nicht antworten können, aber vielleicht hört sie Sie und versteht, was Sie sagen, und das macht es vielleicht einfacher. Ich bin draußen im Wohnzimmer, falls Sie mich brauchen, falls sich irgendwas änder t …“
Ich nicke, um Georgia zu zeigen, dass ich verstanden habe. Dann gehe ich ins Schlafzimmer, in dem wieder dieser eigenartige Geruch hängt, eine Mischung aus Weihrauch, aromatischen Ölen, Arzneien und Krankheit. Die Nachmittagssonne scheint durch einen offenen Vorhang auf das Fußende des Bettes, und Myriaden von Sonnenstäubchen mikroskopischen Lebens tanzen darin. Bevor ich den durchgesessenen Lehnstuhl ans Bett ziehe, betrachte ich die Sterbende in ihrem Bett. Sie ist wie in Gold gefasst, ihre Gesichtshaut, ihre Augenlider sind pergamentdünn und durchsichtig. Wäre da nicht das schwache Heben
Weitere Kostenlose Bücher