Mercy, Band 2: Erweckt
nicht mehr weh, aber dafür fühle ich mich jetzt, als flösse in meinen Adern Säure statt Blut.
Trotzdem zögere ich. Ich gehöre nicht zu Ryans Clique. Womöglich hält er mich für irgendeinen abartigen Psycho, der in der weiten Welt da draußen zufällig über sein Bild gestolpert ist. Und vielleicht liegt er damit gar nicht so schie f …
Ich bewege meinen Zeigefinger und der kleine Pfeil driftet unruhig auf das Feld „Nachricht senden“ zu. Endlich kann ich es anklicken, und das Fenster öffnet sich, mit Ryans Foto in der oberen linken Ecke.
Ich kann nicht tippen, aber ich lerne schnell. Ich überfliege kurz die Tastatur vor mir und schreibe in das Fenster:
Ryan, hier ist Mercy. Schau nicht auf das Foto, dort siehst du nur Sonnenlicht. Zwischen dem Mädchen hier und Carmen gibt es keinerlei Verbindung. Es gibt keinen nachvollziehbaren Grund, weshalb gerade sie ausgewählt wurde, und nicht ich habe diese Wahl getroffen. Wieder bleibe ich zurück als Abfallprodukt eines Vorgangs, den ich nicht wirklich durchschaue.
Aber ich erinnere mich an Lauren, ich erinnere mich an den Baum, den du in Brand gesteckt hast, an das Mulvaney’s , die Fahrt in deinem Auto nach Little Falls, nach Port Marie. An all das erinnere ich mich. Frag mich nicht, wie, aber so ist es.
Ich werde dich finden. Du weißt, wie hartnäckig ich sein kann. Sag mir nur, wo du bist, und bitte schnell!
Ich überlege einen Augenblick und füge noch hinzu:
Ich gehe jetzt eine Weile offline.
Dann klicke ich auf „Senden“, und der Text und das Fenster verschwinden sofort und zurück bleibt nur Ryans Profilseite, das atemberaubende Foto, auf dem er den Blick von mir abwendet.
Kapitel 9
Ich sitze ein paar Minuten da und wechsle zwischen Ryans und meinem Fenster hin und her, ohne dass sich etwas verändert. Ich füge Ryan als Freund hinzu. Aber es passiert immer noch nichts.
Ranald kommt wieder an den Tisch und räuspert sich höflich, für den Fall, dass ich ihn nicht gehört habe. „Und? Alles klar?“, fragt er zögernd und führt seine angekauten Fingernägel zum Mund, bremst sich aber im letzten Moment und lässt die Hand schnell wieder sinken. „Ich muss jetzt wirklich wieder arbeiten. Sonst krieg ich Ärger mit der Firma. Dabei hab ich die meisten Computer-Programme für P/2/P selber geschriebe n – ohne mich wären sie aufgeschmissen. Und trotzdem bin ich immer nur der Prügelknabe. Ich hab ihnen schon oft gesagt, dass ich irgendwann alles hinschmeiße, und dann geht der ganze Laden kaputt. Aber ich kann reden, so viel ich wil l – mich nimmt keiner ernst.“ Er wirft mir ein scheues, selbstironisches Lächeln zu.
„Ja, klar, tut mir leid“, sage ich und stehe auf. Ich bin enttäuscht, dass ich nicht noch länger am Computer sitzen kann und dass Ryan nicht sofort auf meine Mail geantwortet hat.
Aber was erwarte ich eigentlich? Ich weiß doch gar nicht, was er macht und wo er sich aufhält. Vielleicht schläft er gerade. Oder er ist verreist.
Oder bei Brenda Sorensen , stichelt die böse kleine Stimme in meinem Hinterkopf.
Lauren ist in Sicherheit und Ryan kann sich wieder um sein eigenes Leben kümmern. Brenda wollte ihn zurückhaben, das weiß ich, und Brenda bekommt immer, was sie will. Oder vielleicht drückt Ryan sofort auf „Löschen“, wenn er meine Nachricht sieh t – eine Mail von einem wildfremden Mädchen aus Melbourne in Australien. Gut möglich, dass er sie nicht mal liest.
Trotz allem hoffe ich, dass meine Nachricht Ryan erreicht. Dass er sie versteht und darauf reagiert, dass er sich von den Gefühlen leiten lässt, die er mal für mich hatte. Wenn nicht, werden Luc und ich nie wieder zusammenkommen. Es hängt so unendlich viel davon ab.
Und ehrlich gesagt habe ich es satt, unabhängig zu sein, immer alles alleine zu machen. Es wäre schön, wenn zur Abwechslung mal jemand für mich da wär e – jemand, der mich um meiner selbst willen schätzt, vielleicht sogar liebt, egal welches Gesicht ich gerade habe. Ich will nicht jammern, Selbstmitleid ist etwas für Idioten, aber ich bin nicht dafür gemacht, diese Bürde allein zu tragen. Ich war einst Teil von etwas Größerem. Ich wurde zu einem bestimmten Zweck erschaffen, und in gewisser Weise weiß ich, dass ich versagt habe. Ich will endlich heraus aus der Kälte. Will nicht mehr im Exil leben. Und wenn das Konsequenzen hat, nehme ich sie gerne in Kauf.
Als ich mich dabei ertappe, wie ich mit einem Finger an Ryans Gesicht auf dem Bildschirm
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