Mercy, Band 2: Erweckt
entlangstreiche, schließe ich hastig das Fenster.
„Entschuldige“, sage ich noch mal und hoffe, dass Ranald diesen Augenblick der Schwäche nicht mitbekommen hat. „Und vielen Dank. Ich weiß es zu schätzen, dass du mir deinen Computer und deine kostbare Zeit zur Verfügung gestellt hast.“
Ranald starrt einen Augenblick auf mich herunter und sein Blick verdüstert sich. „Nimm dich in Acht da draußen“, sagt er leise und tippt mit einem seiner verunstalteten Fingernägel auf den Bildschirm, der jetzt schwarz ist. „Nicht umsonst heißt es ‚Netz‘. Anfänger wie du bleiben leicht darin hängen und werden bei lebendigem Leib aufgefressen.“
„Danke für den Tipp“, erwidere ich.
Ich stehe von meinem Platz auf und will den Deckel herunterklappen, um das Gerät zu schließen.
„Nein, halt!“, ruft Ranald. „Ich muss ihn erst noch runterfahren.“
Ich hatte geglaubt, das sei bereits geschehen, aber jetzt taucht ein schmales weißes Band auf dem tintenschwarzen Bildschirm auf, so schwach, dass ich es im ersten Moment für eine optische Täuschung halte. Langsam schlängelt es sich auf mich zu, wankt hypnotisierend hin und her wie eine angreifende Kobra. Heller und heller wird es, dehnt sich aus, und jetzt sehe ich, dass es keine Schlange ist, sondern ein Zitat in einer fetten weißen Schrift vor dem pechschwarzen Hintergrund.
Abyssus abyssum invocat.
Wörtlich übersetzt heißt das: „Eine Tiefe ruft die andere hervor.“ Ich runzle die Stirn. Es bedeutet wohl so viel wie: Ein Fehler zieht den andern nach sich.
„Das ist mein Bildschirmschoner“, erklärt Ranald mit leuchtenden Augen. „Kannst du Latein?“
Warum klingt er so hoffnungsvoll? Wünscht er sich, dass ich es kann?
Ich schüttle den Kopf. „Nein“, sage ich fest. „Kein Wort.“
Latein ist meine Muttersprache, mea lingua , aber das braucht er nicht zu wissen. Ich beherrsche sie fließend, fast, als sei es die Sprache, in der ich denke, in der ich träume. Keine Ahnung, woher diese Fähigkeit kommt.
„Na ja, kla r – wer kann schon Latein?“, murmelt er mit einem leisen Lächeln, während er seinen Laptop abschaltet und zuklappt. „Obwohl es ein Verlust für die Welt ist, so wie der Tod alles Schönen.“
Ich winke ihm flüchtig zu und gehe zur Theke zurück, wo Sulaiman mich mit unergründlicher Miene aus der Durchreiche anstarrt.
Sobald ich heute im Green Lantern Schluss mache, will ich ins Internet-Café in Chinatown gehen und nachsehen, ob Ryan auf meine Nachricht geantwortet hat. Ich weiß nicht, ob ich es so lange aushalte. Und wenn keine Antwort da ist? Und wie kann ich von hier aus zu seinem Wohnort reisen? Lela hat kein Geld und ich kann mich dort wohl kaum auf dieselbe Art materialisieren wie beim letzten Mal. So funktioniert es leider nicht, das wäre zu einfach.
„Ein erster Schritt“ ist die Untertreibung des Jahrhunderts, wenn ich mir vorstelle, wie weit der Weg ist, der mir vielleicht noch bevorsteht, um zu Luc zu kommen.
Und was wird aus Lelas sterbender Mutter, wenn ich plötzlich wie vom Erdboden verschluckt bin? Genau das habe ich nämlich vor: einfach zu verschwinden. Aber kann ich Karen Neill im Stich lassen, nur um mich selbst zu retten?
Es lohnt sich nicht, mir jetzt schon den Kopf darüber zu zerbrechen. Ich weiß doch gar nicht, ob Ryans Gefühle für mich stark genug sind, dass er mir, Mercy, antwortet. Alles hängt von ihm ab. Was Ryan tun wird, entscheidet über meinen Weg.
Ein Gast baut sich vor mir auf. Es ist der Nadelstreifen-Zwerg von gestern Morgen, der Justine als „Hure“ beschimpft hat. Wahrscheinlich will er noch ein Hühnchen mit mir rupfen. Okay, Blödmann, da bist du nicht der Einzige, denke ich.
Laut sage ich: „Was darf’s sein, bitte?“
Draußen ist es heiß, aber das allein erklärt nicht, warum der Zwerg schwitzt wie im Fieber. Seine Haut ist schweißnass und glitschig, das schüttere Haar und der Bart sind dunkel vor Schweiß, obwohl die Klimaanlage auf vollen Touren läuft genauso wie die beiden großen Deckenventilatoren. Die Augen des Mannes sind weit aufgerissen und starr vor Angst.
Er grapscht nach meinem linken Arm wie ein Zombie und ich fauche los: „Fassen Sie mich nicht an! Was wollen Sie?“ Die Sätze kommen im selben Atemzug, sodass die Worte ineinander übergehen.
„Ich will, dass Sie sich hinsetzen“, sagt der Typ in seltsam beherrschtem Ton. „Und Sie auch und Sie auch!“ Er wirbelt herum, sein zitternder Finger zeigt auf Sulaiman, dann
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