Mercy, Band 2: Erweckt
jetzt schon so aufgekratzt, als hätte er eine Woche lang jede Nacht durchgemacht, ein koffeingeschädigtes Nervenbündel.
Er stellt seinen Laptop auf den Tisch, der am nächsten an der Theke steht. Heute packt er seltsamerweise nicht sein ganzes Hightech-Arsenal aus. Nur den Computer selbst und ein einziges Zusatzgerät: klein, grau, flach, vielleicht so groß wie mein Daumen. Es hat eine Kappe, aber die lässt er drauf. Dreht das Ding ein paarmal in den Händen, als studierte er es mit neu erwachtem Interesse oder sähe er es zum ersten Mal.
Er richtet seinen Laptop exakt an den Tischkanten aus, legt das Zusatzgerät daneben, genau parallel zum Computer.
Dann schnippt er herrisch mit dem Finger nach Reggie und Cecilia, verlangt seinen Kaffee und wirft den Laptop an. Der Bildschirm hinter der üblichen Ansammlung von Symbolen ist pechschwarz. Und quer darüber steht in leuchtenden weißen Buchstaben: DIES IRAE.
Und für einen Augenblick ist mir, als würde die Welt aus den Fugen geraten, ich höre flüchtig eine strahlende Musik, ein Requiem für die Toten, die ich weder benennen noch im Gedächtnis behalten kann. Die Musik verstummt und die Welt schiebt sich ineinander, verengt sich, wird flach, wird wieder weniger als die Summe ihrer Teile. Aber diese Worte sind mir vertraut, die Worte, die zu dieser strahlenden Musik vertont wurden. Eine geniale, wahnsinnige Musik, die Musik des Todes. Und wörtlich bedeuten sie „Tag des Zorns“.
Die gängigere Übersetzung dafür lautet „Tag des Jüngsten Gerichts“.
Die Stunden kriechen dahin, während ich endlose Schinken-, Käse-, Tomatentoasts ausgebe, ein Vegemite-und Käse-Sandwich zum Mitnehmen, neun weitere Schinken-Ei-Frühstücks-Specials zum Hieressen. Dazwischen schneide ich den „Kuchen des Tages“ auf, der in Wahrheit nur der Kuchen von gestern ist und mit einem großzügigen Klacks Sprühsahne serviert wird. Außerdem muss ich drei Ladungen Müll rausbringen, zweimal die Spülmaschine ausräumen, die Toiletten putzen und dabei besonders sorgfältig die Kloschüsseln und Waschbecken schrubben, den Inhalt der alten Getränkekühltheken neu sortieren und den Spezialsalat des Tage s – Thunfischpasta mit Oliven und Kirschtomate n – in jede Menge Mitnahmebehälter einfüllen, für die figurbewussten weiblichen Büroangestellten, die eine leichtere Mahlzeit bevorzugen.
Endlich bin ich mit allem fertig, und weil mich Ranalds durchgeknalltes Gehabe nervös mach t – er hackt immer noch wie ein Idiot auf seine Tastatur ein und checkt pausenlos seine Mailbo x –, rücke ich M r Dimowski in seinem Büro auf den Leib und frage ihn leise, ob ich gehen darf, sobald mein Freund da ist, um mich nach Hause zu begleiten.
„Ich glaube nicht, dass Mum den heutigen Tag überlebt“, sage ich, und M r Dimowski kann an meinem aufrichtig besorgten Gesichtsausdruck ablesen, dass ich die Wahrheit sage.
„Aber natürlich können Sie gehen!“, ruft er. „Jetzt gleich, wenn Sie wollen.“
„Nein, nein, erst wenn er kommt“, wiederhole ich. „Und bitte sagen Sie Ranald nichts von meine n … äh m … Plänen, ja? Ich bin nämlich heute Abend mit ihm zum Essen verabrede t – ich habe mich beschwatzen lassen und hinterher hab ich’s sofort bereut. Aber das geht jetzt natürlich nicht.“
Weder heute noch sonst irgendwann , stichelt mein böses Ich.
„Ich ziehe mich auf die feige Tour aus der Affäre“, gebe ich zu. „Ich verschwinde nachher einfach und hoffentlich merkt er nichts. Wenn er nach fünf noch mal herkommt und nach mir fragt, bin ich längst über alle Berge.“
Es ist alles meine Schul d – die Vorfreude hat mich leichtsinnig gemacht. Ich habe einfach vergessen, Ranalds idiotisches Morgenritual in meine Pläne mit einzubeziehen. Vielleicht habe ich wider besseres Wissen gehofft, dass Ryan und ich schon weg sind, wenn Ranald mit seinem Laptop aufkreuzt. Auf jeden Fall darf er mich nicht mit Ryan zusammen sehen. Diesen Supergau will ich nicht erleben. Nicht jetzt. Nicht heute. Und in gewisser Weise ist es gnädiger, wenn Ranald mich einfach nie wiedersieht.
M r Dimowski nickt verständnisvoll. „Ein komischer Kauz, dieser Ranald. Und heute ist er noch verrückter als sonst, wenn Sie mich fragen. In Russland gibt es ein Sprichwort: Ne boysya sobaki, shto layet, a bosya toy, shto molchit, da khvostom vilyayet. “ Er lacht über mein ratloses Gesicht. „Wörtlich übersetzt bedeutet das: ‚Fürchte nicht den Hund, der bellt, sondern den, der
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