Mercy, Band 4: Befreit
Ehrlichkeit wird schon erlaubt sein , erwidere ich ironisch. Und du hast nie mit der Wahrheit hinterm Berg gehalten.
Du auch nicht , kontert er. Kein Wunder, dass wir immer wie Katz und Hund waren.
Was heißt ,waren‘? Seit wann herrscht Waffenstillstand zwischen uns?, entgegne ich grinsend.
Uriel schaut mich an, nimmt mich zum ersten Mal wirklich wahr. Schön, dass du wieder da bist. Selbst unter diesen Umständen.
Freu dich nicht zu früh , sage ich trocken.
Sein Gesichtsausdruck wird verlegen, fast etwas beschämt. Ich gebe zu, ich war dagegen, als Raphael damals den Plan ausgearbeitet hat, wie wir dich am Leben erhalten können. Ich war mir sicher, dass du den Sturz nicht überlebt hast. Lucs mörderische Absichten standen ihm deutlich genug ins Gesicht geschrieben. Aber Raphael war fest davon überzeugt, dass du noch am Leben bist und dass Luc alles in seiner Macht Stehende tun würde, um dich zu finden, weil er angeblich diesen Schwur geleistet hat. Ehrlich gesagt wussten wir nicht, in welchem Zustand wir dich antreffen würden, falls du je ‚erwachen‘ solltest. Ich glaube, von uns Acht hat Gabriel dich am meisten vermisst. Ihm fehlte die Auseinandersetzung mit dir, die Eigenwilligkeit, mit der du jeden Aspekt der Dinge betrachtet hast. Raphaels Urteil über dich war von seinen Gefühlen getrübt, aber Gabriel hat dich ehrlich vermisst. Du habest ihn zum Lachen gebracht, hat er gesagt, und es gibt nur wenig im Leben, was Gabriel erheitert. Er wird froh sein, dass du wieder da bist.
Sofern er noch lebt , denke ich angstvoll, und Uriel drückt kurz meine Hand.
Wir finden ihn – lebend. Die Antwort kommt so schnell und heftig, als müsste er sich selbst überzeugen.
Eine Weile sitzen wir im Dunkeln, Schulter an Schulter. Und vielleicht ist es ein Wunschtraum, der jeder Realität entbehrt, aber mir ist, als wäre ich wieder mit meinesgleichen verbunden, wenn auch nur für diesen Moment. Ich bin Teil von etwas Größerem, das weit über das bloße Dasein, das Überleben hinausgeht. Mir war nicht klar, wie viel mir dieses Wissen bedeutet. Einfach hier im Dunkeln zu sitzen, neben Uriel und Ryan, der an meiner Schulter atmet, hat schon eine heilende Wirkung.
Aber die Zeit schreitet unerbittlich fort, das spüren wir beide. Wir sind ihre Hüter, ihre Geschichtsschreiber, sie tickt in uns und kann nie verleugnet werden.
Wir müssen ihn wecken , sage ich schließlich widerstrebend und deute auf Ryan.
Es ist Zeit , stimmt Uriel zu.
Er steht lautlos auf, hält mir seine starke Hand hin und ich nehme sie.
Wir fahren mit dem Touristenzug nach „Kilometer 104“, einem Bahnhof in Chachabamba, etwa sechzig Kilometer von Cusco entfernt.
Ich sitze neben Uriel, Ryan sitzt uns gegenüber und starrt ehrfürchtig aus dem Fenster, als der Zug an den steilen Hängen hinunterrollt, die in tiefe Schluchten abfallen. Eine Bergkette reiht sich an die andere.
Vor der Abfahrt des Zuges hatte Ryan Uriel taktvoll darauf hingewiesen, dass es ziemlich abgefahren sei, mit Kaschmirpulli, Chinos und Fransen-Loafers auf einem Inka-Trail anzutreten. Abweisendes Schweigen war die Antwort.
Aber Ryans Worte zeigten Wirkung. Jetzt trägt Uriel einen rot-blauen Kapuzenparka mit Gummizug, den er sich bei einem Fahrgast auf einem anderen Gringo-Bahnhof abgeschaut hat, dazu einen dicken Rollkragenpulli, der meinem ähnelt, nur in Marineblau, und eine schwarze Kargohose, schwere Stiefel, Sonnenbrille und eine schwarze Strickmütze.
Ryan und ich werfen uns einen verstohlenen Blick zu, während wir uns über die Tasche beugen und so tun, als wären wir mit Geldzählen beschäftigt.
Okay? , fragt Uriel in meinem Kopf, als er sieht, wie ich ihn anstarre, und ich halte anerkennend den Daumen hoch. Beruhigt lehnt er sich zurück.
„Aber die Sonnenbrille kannst du absetzen“, sage ich. „Wir sind ja drinnen.“
Ryans Telefon läutet und zieht sofort Uriels Aufmerksamkeit auf sich. Ryan greift überrascht in seine Lederjacke und holt es heraus.
„Lauren? Was ist los?“, fragt Ryan erschrocken. „Ist was passiert? Ich hab doch gestern erst angerufen. Von Tokio aus.“ Er schaut mich fragend an.
Ich nicke, obwohl es auch mir so vorkommt, als sei es eine Ewigkeit her, dass wir in Tokio gewesen sind.
Laurens Stimme dringt laut und klar aus dem Telefon, und ohne auf Ryans Frage einzugehen, sagt sie ängstlich: „Ryan, ist Mercy da? Ich muss sie unbedingt was fragen. Kannst du sie mir mal geben?“
Ich schwinge mich auf den
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