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Mercy, Band 4: Befreit

Mercy, Band 4: Befreit

Titel: Mercy, Band 4: Befreit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilse Rothfuss
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überflüssig vor“, murmelt er. „Ich weiß nicht, was du überhaupt an mir findest.“
    Ich will etwas sagen, unsere Liebe verteidigen, aber er gibt mir keine Chance, sondern hält abwehrend die Hand hoch.
    „Und schnüffle jetzt bloß nicht in meinem Kopf rum“, knurrt er mich an, „denn was du da findest, gefällt dir garantiert nicht. Na los, geh schon rauf zu deinem tollen Uriel und spiel die Superheldin mit ihm. Mir reicht’s erst mal. Ich brauch Zeit zum Nachdenken.“
    Damit wendet er sich ab, sammelt seine letzten Kräfte und marschiert zügig weiter, um Uriel und Mateo zu überholen, obwohl es ihn fast umbringt. Das ist so typisch Ryan, dass ich nicht weiß, ob ich lachen oder weinen soll.
    Ich gehe zu Uriel zurück, der leichtfüßig den Berg hinaufsteigt. Hier draußen wirkt er größer, lebendiger, selbst in seiner Menschengestalt, obwohl die Elemente uns alles ins Gesicht schleudern, was sie zu bieten haben. Wind und Wasser. Aber kein Feuer. Das Feuer bringen wir.
    Ryan fällt erneut zurück, als wir im peitschenden Regen zügig weitersteigen, und sein unglückliches, verbissenes Gesicht zerreißt mich innerlich. Die Luft wird immer dünner, je höher wir kommen. Mateo hat uns gestern Abend vorgewarnt, dass wir mindestens drei bis vier Stunden brauchen werden, um die ersten Ruinen auf diesem Routenabschnitt zu erreichen. Aber mit dem unmenschlichen Tempo, das er vorlegt, bringt Uriel uns alle an den Rand der Erschöpfung – Ryan, Mateo und sogar mich. Wir werden immer schneller, unvorsichtiger. Von den anderen Gruppen, die mit uns aufgebrochen sind, ist längst nichts mehr zu sehen.
    Mitten in einem fürchterlichen Regenguss fängt Uriel an zu singen:
    „Lallalei, lallalei, nie hätt’ ich geglaubt,
dass der Falke mir meinen Liebsten raubt.“
    Wind und Regen sind plötzlich kaum noch spürbar, nur der Klang seiner Stimme erfüllt die Luft. Ich bleibe wie angewurzelt stehen, verzaubert von der Schönheit seiner Stimme, von den Worten, der Melodie in einer fremdartigen alten Molltonart.
    Nun bleiben auch Mateo und Ryan stehen und nur Uriel marschiert leichtfüßig weiter und singt mit seiner reinen, klaren Tenorstimme, die von allen umliegenden Gipfeln widerhallt:
    „Er trägt ihn bergauf, trägt ihn bergab,
in einen falben Garten hinab.
In diesem Garten war ein Saal,
verhangen mit Purpur, so rot und fahl.
Und in dem Saal, da stand eine Bahr’.
Die war bedeckt mit rotgoldnem Flor,
und auf der Bahre ein Ritter lag,
dessen Wunden bluteten Nacht und Tag.
Zu seinen Füßen ein Mägdlein saß,
das weint’ und klagt’ ohne Unterlass.
Und neben der Bahr’, da kündet ein Stein:
‚Corpus Christi ich hier bewein‘.“
    Mateo zeigt verwundert zum Himmel hinauf, wo eine riesige geflügelte Gestalt aus der Dunkelheit und dem Regen auftaucht. Ich erstarre, halte mich flucht- oder kampfbereit, falls es sich um einen Dämon handelt, aber es ist nur ein Vogel. Nicht der Falke, den Uriel besungen hat, sondern ein riesiger schwarzer Kondor mit einer Flügelspannweite von fast drei Metern. Er segelt anmutig über unsere Köpfe hinweg und kommt uns so nahe, dass ich den Luftstrom spüre, das Brausen seiner Flügel über uns höre, während Uriel den Refrain des Lieds wiederholt:
    „Lallalei, lallalei, nie hätt’ ich geglaubt,
dass der Falke mir meinen Liebsten raubt.“
    Ich trete neben ihn, fast wie unter Zwang, und falle mit unsicherer Altstimme, die aber genauso wundersam hallt wie Uriels Tenor, in den Refrain ein:
    „Lallalei, lallalei …“
    Von allen Gipfeln ringsum hallen unsere Stimmen wider, doch kaum ist das Lied verklungen, geht Uriel einfach weiter, als ob nichts gewesen wäre.
    Mateo ruft ehrfürchtig: „Ich mache diese Route schon so viele Jahre, aber noch nie hab ich einen Kondor so nahe vorbeifliegen sehen! Als hätte dies Lied ihn vom Himmel heruntergeholt.“
    Ganz aufgewühlt von diesem Wunder läuft er hinter Uriel her.
    Ich gehe weiter bergauf, schaue hin und wieder zu Ryan zurück, der mühsam hinterherzuckelt und den Kopf einzieht, um sich vor dem peitschenden Regen zu schützen. Er versucht nicht mal, mich einzuholen, und dabei würde ich jetzt so gern mit ihm reden. Aber das muss ich wohl auf später verschieben, auch wenn es vielleicht kein „später“ gibt. Ich glaube, das ist unser erster richtiger Krach und die Angst, zurückgestoßen zu werden, macht mich rasend.
    Plötzlich trete ich auf behauenen Stein – eine Inkatreppe, die direkt in den Fels geschlagen ist.

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