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Mercy, Band 4: Befreit

Mercy, Band 4: Befreit

Titel: Mercy, Band 4: Befreit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilse Rothfuss
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wir die Schalen unauffällig beiseite.
    Ryan bekommt auch nur eine winzige Portion von dem Essen hinunter, dann rollt er sich auf dem niedrigen Sofa zum Schlafen zusammen. Ich lasse mir von Gabino, unserem Gastgeber, eine Decke geben und breite sie über ihn. Dann hänge ich seine nasse Jeans zum Trocknen auf, knie mich neben das Sofa und räume unsere Sachen aus dem Rucksack in den Ersatzbeutel, den Gabino mir vorher gegeben hat. Er ist aus dickem Wollfilz und mit bunten peruanischen Mustern bestickt.
    „Was ist los mit ihm? Was ist das für eine Gringo-Krankheit, von der Gabino gesprochen hat?“, frage ich Uriel, der mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht dasteht.
    „Wir sind gut 3400 Meter über dem Meeresspiegel“, murmelt Uriel und schaut zu, wie ich die Tasche zumache. „Ryans Körper muss auf Hochtouren arbeiten, um ihn am Leben zu halten. Er ist nicht an die dünne Luft hier oben gewöhnt und ich leider auch nicht. Kannst du nachher bitte unseren Gastgebern erklären, dass ich an die frische Luft musste? Ich bin vor Tagesanbruch zurück.“
    Lautlos wie eine Katze verlässt Uriel den Raum, ohne dass die anderen auf ihn aufmerksam werden – was in diesem Gedränge ein wahres Kunststück ist. Vielleicht war Uriel noch nie so lange mit Menschen zusammen, und der ganze Trubel, die vielen Sinneseindrücke, die mich so begeistern, waren einfach zu viel für ihn.
    Am späten Abend bietet mir Mayu, Gabinos schüchterne Frau, einen Schlafplatz an.
    Ich schüttle den Kopf. „Nein, danke, ich brauche kein Bett“, flüstere ich ihr lächelnd auf Quechua zu. „Ich bleibe auf und wache über den Gringo.“
    Mayu neigt den Kopf und rauscht in ihrem schönen roten Rock davon. Als ich wieder aufblicke, schaut Mateo mich seltsam an.
    „Sie brauchen Ihren Schlaf“, sagt er auf Quechua und sieht sich im Zimmer um. „Wo ist denn Ihr Bruder?“
    Gabinos Vater ruft leicht beschwipst: „Ayar Awqa lässt sich nicht in einen Käfig sperren! Er ist in den Nachthimmel davongeflogen, um mit den Sternen zu reden!“
    „Nein, im Ernst, Señorita, wo ist er?“, fragt Mateo besorgt. „In ein paar Stunden komme ich zurück und hole Sie ab. Der Zug fährt um sechs in Cusco ab. Es ist zwar ein kurzer Treck, aber er ist anstrengend, wenn man die Höhe nicht gewöhnt ist.“
    Ich lächle Mateo zu. „Uriel wird es schnell zu eng in der modernen Welt. Er fühlt sich nicht wohl in einer Menschenmenge. Aber er ist stark und trittsicher und ausdauernd. Um ihn müssen Sie sich keine Sorgen machen und er wird rechtzeitig zurück sein.“
    „Dann ist das morgen genau das Richtige für ihn“, erwidert Mateo erleichtert. „Das Hochland, in das wir aufsteigen, ist wild und einsam. Das Reich der Götter.“
    Und Dämonen , denke ich im Stillen. Trotz der Wärme und Musik in dem hellen Raum läuft mir ein Schauder über den Rücken, als ich mir Gabriel in Feuerketten vorstelle, irgendwo im Dunkeln, tief unter den Ruinen einer toten Stadt.

Um mich herum ist alles still, nur das Knarzen und Ächzen der Holzbalken ist zu hören, als Uriel zurückkehrt. Ich habe die ganze Zeit im Dunkeln gesessen und versucht, Ordnung in die bruchstückhaften Erinnerungen zu bringen, die ich meinem Gedächtnis zu entreißen vermag.
    Ryan schläft noch auf dem Sofa, sein Atem geht flach und keuchend. Uriel kniet sich neben mich und streicht mir eine lange dunkle Locke aus dem Gesicht.
    So viele Sterne wie am Himmel über Cusco wirst du nie wieder sehen , sagt er in meinem Kopf. Außer zu Hause natürlich. Vermisst du es denn nicht? Wie kommt es, dass du kein Heimweh hast? Mir ist in jeder Sekunde, die ich weg bin, als würde sich meine Seele … auflösen.
    Genau so geht es mir mit Ryan, aber das sage ich Uriel nicht. Irgendwie sind wir jetzt unauflöslich miteinander verbunden, als hätte sich meine Sehnsucht nach zu Hause auf ihn übertragen. Und wenn wir nicht mehr zusammen wären, würde ich mich vielleicht wirklich auflösen. Daran darf ich gar nicht denken, bis das alles hier vorbei ist – und das Ende ist nahe, das spüre ich.
    Uriel setzt sich neben mich, lehnt den Rücken gegen die durchgesessene Couch und nimmt meine Hände in seine. Seine Haut ist ganz warm, von einem besonderen, lebendigen Feuer durchglüht.
    Ich bin müde , sagt er. Wenn du wüsstest, wie satt ich das Planen und Taktieren habe, dieses ewige Beschützen, Kämpfen und Herumreisen. Ich kann nicht mehr. Darf ich das sagen? Sein Lachen klingt gespenstisch.
    Ein bisschen

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