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Mercy, Band 4: Befreit

Mercy, Band 4: Befreit

Titel: Mercy, Band 4: Befreit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilse Rothfuss
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schwachen Lichtstreifen, der die Dämmerung ankündigt, als unser Wagen am Wasser entlangfährt. Der Wind ächzt gespenstisch in den Kiefern, die das Ufer säumen. Es sind Hunderte von Toten. Lautlos schweben sie die Straße entlang, über die Terrassengärten hinunter, verwirrt und aufgescheucht. Etwas am Grund des Sees lockt sie an und sie folgen ihm blindlings, stumm, von einem urtümlichen Instinkt getrieben.
    Alle drehen den Kopf, als könnten sie mich wittern, und schauen mir nach, obwohl ich für Menschenaugen unsichtbar bin. Ich bin nur eine kleine Turbulenz, eine Energiewolke, die auf einem schnittigen Luxury Sedan vorbeizischt. Trotzdem suchen mich die Geister, und ein Schaudern, eine Eiseskälte erfasst mich beim Anblick der versammelten Toten.
    Unser Fahrer merkt von all dem nichts. Er lenkt den Wagen mitten durch einen alten Mann hindurch, der auf die Fahrbahn geschwebt ist. Er trägt noch dieselbe Kleidung, die er anhatte, als ihn der Tod ereilte. Das Auto reißt ihn in Fetzen. Als ich mich umdrehe und zurückblicke, hat die gramgebeugte Erscheinung sich bereits neu gebildet. Das aschfahle Gesicht und die Augen sind auf unsere Rücklichter gerichtet, die Arme flehend erhoben. Dann schwebt die Gestalt weiter in Richtung Wasser.
    Der Nebel auf dem See wird immer dichter und am Himmel türmen sich düstere bleigraue Wolken auf, die keinen Sonnenstrahl durchlassen. Alles ist in unheimliches gelb-graues Halblicht getaucht. Der See, die Berge und die Bäume sehen aus wie eine bizarre Unterweltlandschaft, aber irgendwann sind die Toten verschwunden. Wir haben Moltrasio und seine Geister hinter uns gelassen. Doch wenig später erhebt sich ein gewaltiges Getöse, ein anhaltendes Donnergrollen, und der Boden zerknittert wie Stoff unter den Autoreifen, um sich dann gleich wieder zu verfestigen. Die Gegend, durch die wir kommen, schimmert einen Augenblick in einem unnatürlichen Licht. Alles flirrt und verschwimmt – die luxuriösen Anwesen hinter hohen, weinüberwucherten Zäunen und schmiedeeisernen Toren, die pastellfarbenen zwei- bis dreistöckigen Häuser am Straßenrand, die ordentlichen Reihen dicht an dicht geparkter Autos, die ausladenden Äste der Kastanienbäume.
    Der Fahrer drückt aufs Gas und ich spüre seine Angst, als er den Wagen durch die Kurven jagt. Wir geraten mehrfach ins Schleudern, obwohl die Straße hier trocken und in fast perfektem Zustand ist.
    Dann schrillen die Alarmanlagen der Autos los, hinter einigen Fenstern gehen die Lichter an. Aber das unheimliche Grollen ist verstummt.
    Ein paar Kilometer weiter fahren wir in halsbrecherischem Tempo über eine Brücke und dann weiter landeinwärts, bis der See in der Ferne verschwindet. Ich werfe einen letzten flüchtigen Blick zurück und meine schlimmsten Befürchtungen bestätigen sich: Von der Wasserfläche ist nichts mehr zu sehen, nur noch der wogende weiße Nebel.
    Einen Augenblick nehme ich ein hohes Heulen in meinem Kopf wahr. Ein tastendes Geräusch, Vorbote eines großen Schmerzes, so wie vor wenigen Stunden, als Luc in meinen Kopf einzudringen versuchte, obwohl ich ihn dort nicht haben wollte. Meine Reaktion ist heftig und blitzartig. Ich konzentriere mich mit aller Kraft darauf, Luc aus meinem Kopf auszusperren – zugleich eine willkommene Ablenkung von Paris und allem, was uns dort noch bevorsteht.
    Schließlich hält der Fahrer vor derselben Straßensperre, durch die wir gestern gekommen sind, und unser Nummernschild sorgt für Unruhe unter den Polizisten. Einer von ihnen kommt zu uns, und ich höre, wie das Fenster auf der Fahrerseite herunterzischt, dann das auf Ryans Seite. Mit grimmigem Gesicht beugt sich der Polizist herunter und wirft einen Blick ins Wageninnere, dann streckt er die Hand nach den Papieren aus, überfliegt sie, gibt sie zurück und reißt ruckartig die Hand hoch. Sekunden später schieben sich zwei Motorräder der Polizia di Stato rechts und links neben unseren Wagen, um uns zu eskortieren. Eines der beiden Motorräder setzt sich an die Spitze, das andere lässt sich hinter uns zurückfallen.
    Dank unserer Polizeieskorte kommen wir überraschend gut auf der vierspurigen Autobahn gen Nordwesten voran. Immer wieder fange ich die Blicke der anderen Autofahrer auf, die unserem kleinen Konvoi neugierig hinterherschauen, aber viel mehr beschäftigt mich das Wetter. Ein stahlblauer Winterhimmel mit vereinzelten Wölkchen wölbt sich über der Landschaft. Ein ganz gewöhnlicher Morgen für diese Jahreszeit. Kalt

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