Mercy, Band 4: Befreit
er mir ein Zeichen, dass ich vorausgehen solle.
Wir bewegen uns stetig abwärts und jetzt tauchen immer mehr Knochenberge auf, die sich wie Abfall oder Treibgut in den Gängen türmen: zertrümmerte Schädel, Wirbelknochen oder ganze Wirbelsäulen, Schambeine und Kieferknochen, in denen noch die Zähne sitzen.
Ryan streift sich die Kapuze über den Kopf und zieht frierend die Schultern hoch. Ihm ist sichtlich mulmig bei dem Gedanken an die tonnenschweren Steine über uns und die schaurigen menschlichen Überreste, die wie eine Warnung Gottes vor uns auftauchen. Außerdem hustet er, weil ihm der Knochenstaub in die Kehle dringt. Immer wenn ich mich umdrehe und ihm ins Gesicht blicke, sind seine Augen angstgeweitet, als kostete es ihn seine ganze Kraft, auch nur einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Ich suche die ganze Zeit verzweifelt nach einem Hinweis, dass Selaphiel hier entlanggekommen ist. Aber er ist schon seit über einem Jahr verschollen, und ich sehe nichts, höre nichts als das ferne Rumpeln eines Metrozugs, der irgendwo über uns vorbeifährt, das Gurgeln von Wasser in einer unterirdischen Leitung, das Knirschen und Poltern von Ryans Stiefeln auf dem staubtrockenen Boden, seinen keuchenden Atem und seine Hustenanfälle, die immer heftiger werden.
Dann entdecke ich in einem der Tunnel einen Pfeil an der Wand und ein paar Meter weiter die grobe, lebensgroße Karikatur einer Männergestalt in leuchtendem Scharlachrot. Ich folge den Zeichen mit den Augen und entdecke eine kleine Öffnung in der Wand, die fast von den unregelmäßigen Steinmauern verdeckt wird. Rostige Metallsprossen sind in den Schacht eingelassen, eine primitive Leiter, die über uns in der Dunkelheit verschwindet.
Ich packe Ryan am rechten Handgelenk und ziehe ihn hinter mir her in den schmalen Schacht. Er keucht jetzt vor Anstrengung. Ich richte seine Hand mit der Taschenlampe nach oben.
„Ich glaube, da ist ein Kanalisationsdeckel über uns, ganz weit dort oben“, sage ich und lasse ihn los.
Ryan hält die Taschenlampe noch höher und späht angestrengt hinauf, ohne mit seinen unzulänglichen Menschenaugen etwas zu erkennen.
„Ich kann dich hier rausbringen, wenn du abhauen willst“, schlage ich vor.
Ryan schaut mich kurz an und wieder nach oben, sieht aber immer noch nichts. Dann schüttelt er benommen den Kopf und sagt: „Und wer holt dich dann raus?“
Seine Worte rauben mir den Atem. Er ist so tapfer, so töricht, so loyal. Stumm schmiege ich mich in seine Arme und Ryan drückt mich fest an sich.
„Ich halte dich nur auf, stimmt’s?“, murmelt er in mein Haar. „So was Gruseliges wie das hier hab ich noch nie erlebt. Mir ist kotzübel vor Angst. Ich hab dauernd das Gefühl, auf Treibsand zu gehen, und ich hab einen wahnsinnigen Druck auf der Brust, sodass ich kaum Luft bekomme. Aber ich kann dich hier unten nicht allein lassen. Das würdest du mir doch auch nicht antun.“
Ich nicke, weil es die Wahrheit ist. Ryan kann in mein Herz sehen.
Zärtlich streicht er mir mit dem Daumen über die Wange. „Komisch, dass du jetzt gar keine Angst mehr hast. Vorher warst du doch total aufgelöst. Wie kommt das?“
Ich schmiege mein Gesicht in seine hohle Hand und berühre sie flüchtig mit den Lippen. „Weil mir allmählich klar wird, dass alles hier nur … Kulisse ist. Der Ort, an dem ich beinahe gestorben wäre, existiert nicht mehr und hat deshalb auch keine Macht über mich. Als ich in dem Verlies bei Lauren und Jennifer aufgewacht bin, war das Böse real, lebendig. Das hier ist nichts dagegen.“
Wir folgen weiter dem Gang und kommen an eine Gabelung, die anders aussieht als die vorigen. Ich schaue fragend zu Ryan zurück, aber der stolpert nur zu mir und sagt erschöpft: „Ich weiß nicht, Mercy, mir sagt das alles nichts. Du entscheidest, wie’s weitergeht.“
Er fragt nicht: Wie lange noch? Oder: Wie weit noch? Und plötzlich durchströmt mich die Liebe zu ihm wie eine große Welle. Auch wenn ich weder Essen noch Wasser, weder Luft noch Sonnenlicht brauche – auf Ryan kann ich nicht mehr verzichten. Ohne ihn wäre ich verloren. Es war keine Lüge, als ich ihm das gesagt habe.
Einer der Gänge vor uns ist direkt in den Stein gehauen und führt in die Dunkelheit hinein. Der andere wurde zubetoniert, und zwar erst vor Kurzem, aber in die Betonwand ist ein mannshohes Loch gebohrt. Der ganze Eingang ist mit leeren Spraydosen vermüllt.
Ich gehe auf das Loch zu und Ryan stöhnt.
„Wenn es zu leicht ist“,
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