Mercy, Band 4: Befreit
ziehe ich ihn auf, „macht es auch keinen Spaß.“
Ich kauere am Boden, um mich durchzuzwängen, aber als ich meine Hand nach der Öffnung im Beton ausstrecke, spüre ich einen Luftzug und höre Schritte näher kommen.
Erschrocken fahre ich zurück und stoße mit Ryan zusammen, der sofort erstarrt und flüstert: „Was ist? Was ist los?“
„Psst, hör doch mal! Hörst du’s denn nicht?“
Ryan schüttelt den Kopf, und ich packe ihn an seiner Jacke und drücke ihn gegen die Wand. Im nächsten Moment fliegt ein Rucksack aus dem Bohrloch, dann schießen zwei Hände hervor, dann ein Kopf, und schließlich purzelt ein vierzehn-, höchstens fünfzehnjähriger Junge heraus, der von oben bis unten mit weißem Knochenstaub bedeckt ist. Blitzschnell packt er seinen Rucksack und sprintet davon, ehe wir ihn aufhalten können. Ich spüre seine Energie und seine panische Angst, als er an uns vorbeiflitzt. Er dreht nur kurz den Kopf zu uns und schießt dann in den Gang hinein, aus dem wir gerade gekommen sind. Seine Sneakers berühren kaum den Boden, er scheint zu fliegen.
Im nächsten Moment purzelt ein zweiter Typ aus dem Loch heraus. Auch er ist über und über mit weißem Staub bedeckt und trägt das gleiche Outfit wie der andere: Kapuzenpulli, Sneakers, zerrissene Jeans. Er greift in das Loch, um seinen Rucksack herauszuziehen, der aber in der Öffnung stecken bleibt, und seine Panik zerschneidet die Luft um mich herum. Dann merkt der Junge, dass wir ihn beobachten, und stößt einen langen, gespenstisch hallenden Schrei aus, lässt alles stehen und liegen und rennt mit erhobenen Armen davon.
Wir warten ein paar Minuten, ehe wir uns wieder zu dem Loch vorwagen. Aber es ist nichts Verdächtiges mehr zu hören oder zu spüren.
Ryan stöhnt auf, als ich mich hinknie, um wieder durch das Loch zu spähen. Kälte, lautlose Dunkelheit dahinter. Aber dort drinnen haust etwas, das so schrecklich ist, dass der Junge seine kostbare Beute zurückgelassen hat und schreiend davongestürzt ist.
„Es ist der erste Hinweis, dass hier unten was Lebendiges sein könnte“, sage ich entschuldigend. „Wir müssen einen Blick reinwerfen, das ist dir doch klar.“
Ryan lehnt immer noch reglos an der Wand.
„Es muss etwas bedeuten“, beharre ich.
„Na klar doch“, sagt er zähneknirschend. „Es bedeutet, dass meine Scheißangst alle Rekorde bricht. Du bist der Wahnsinn, ehrlich. Jeder andere würde jetzt total durchdrehen.“
„Ich hab doch auch Angst“, entgegne ich leise. „Aber bei mir überwiegt die Hoffnung. Du hast doch selbst erlebt, wie schrecklich es ist, wenn man um einen geliebten Menschen bangt, der irgendwo im Dunkeln gefangen ist. Selaphiel ist für mich wie ein Bruder, falls man in unseren Sphären von Familienbanden sprechen kann. Er ist der Weltfremdeste der Acht. Er ist gütig und verträumt, nur auf das Heil der Welt, des Universums bedacht, und das macht ihn blind für andere Dinge, auch für die Gefahr, in der er selber schwebt. Ich verdanke ihm mein Leben.“
Ich verstumme einen Augenblick und füge dann hinzu: „Dort unten lebt etwas, das spüre ich. Und ich kann verstehen, dass du zurückwillst. Wenn du durch den Kanalisationsdeckel hinauskletterst, bist du in null Komma nix bei Henri. Du hast seine Nummer. Ruf ihn an – er muss dich auflesen. Und ich komme nach, wenn ich kann. Das verspreche ich dir. Aber ich muss das hier durchziehen, verstehst du, Ryan?. Ich kann nicht anders.“
Ryan zögert, ist hin- und hergerissen, und ich sage heftig: „Du musst nicht mitkommen, Ryan. Es ist nicht dein Schicksal, falls du das glaubst. Niemand gehört einem anderen. Ich werde dich nicht aufhalten. Hör auf dein Bauchgefühl. Du musst wissen, was du aushältst. Wo deine Grenzen sind. Wenn du kein gutes Gefühl hast, dann geh. Es ist okay, ich bin dir nicht böse. Du hast schon genug getan. Für mich bist du der Größte. Und vielleicht kommt irgendwann der Tag, an dem wir einfach nur zusammen sein können, aber jetzt noch nicht. Du hast Dinge gesehen, die kein Sterblicher je erblicken dürfte. Wenn du mich wirklich liebst, dann gehst du jetzt.“
Ich richte mich auf und küsse ihn, schmecke den allgegenwärtigen Knochenstaub auf seinen Lippen, vermischt mit seinem vertrauten salzig-süßen Geruch. Ich lege alles, was ich für ihn fühle, in meinen Mund, in meine Hände.
Aber ich reiße mich schnell los, bevor sich das Flammenzüngeln bemerkbar macht und mir ohne Worte zuflüstert: Verboten . Dann gehe
Weitere Kostenlose Bücher