Mercy - Die Stunde Der Rache Ist Nah
sowohl Pfützen als auch
Fußgängern auszuweichen, trotzdem war er kurze Zeit später an Schultern und
Hosenbeinen durchweicht. Ein Fahrradfahrer raste vorbei, eine Hupe gellte,
irgendwo wieherte nervös ein Pferd. Binnen Sekunden war aus dem Schauer ein
Wolkenbruch geworden. Nun rannten sie beinahe, und Bentz verspürte den wohlbekannten
Schmerz in seiner Hüfte, eine beständige Erinnerung daran, dass er noch nicht
hundertprozentig wieder auf dem Damm war.
Olivia lachte, ihre Augen funkelten vor
Vergnügen darüber, dass sie von einem Sturm überrascht worden waren. »Du bist
ja klatschnass«, stellte sie fest, als die den Eingang des Restaurants
erreichten.
»Das kommt daher, dass ich so galant war, dafür
zu sorgen, dass du trocken bleibst.«
»Was ich zu schätzen weiß. Danke.« Sie zwinkerte
ihm zu. »Ich werde mich revanchieren.«
»Soso.« Unter der gestreiften Markise schüttelte
Bentz den Regenschirm aus, dann hielt er ihr die Tür auf. Drinnen an den
offenen Dachsparren hingen kleine Lichter, die aussahen wie Sterne. Die Wände
waren mit einem warmen, rötlichen Holz vertäfelt, was die Flächen aus
freiliegendem Ziegelstein besonders zur Geltung brachte. Eine Empfangsdame
führte sie zu einem Ecktisch am Fenster. Draußen schüttete es weiter,
metallgraue Wolken entluden sich über der Stadt und ließen das Wasser in den
Rinnsteinen zu Sturzbächen anschwellen. Drinnen brachte der Kellner Getränke
und Speisekarten, dann zündete er ihnen die Kerze an und versprach, gleich
zurückzukommen. Die Deckenventilatoren drehten sich träge. »Also, was ist
los?«, gab Olivia den Anstoß, als der Kellner gegangen war. »Und warum habe ich
bloß das Gefühl, dass mir dein Bericht nicht gefallen wird?«
»Weil du eine sehr kluge Frau bist.«
»Mm.«
»Und weil du so etwas wie eine verrückte
Hellseherin bist.«
»Die du liebst«, erinnerte sie ihn. »Richtig.«
»Die du vergötterst.«
»Jetzt willst du's aber wissen.«
»Du umschiffst das Thema.«
»Ich warte auf den richtigen Augenblick«,
widersprach er und studierte die Speisekarte. Er würde erst von Jennifer
anfangen, wenn sie bestellt hatten. Als der Kellner ihre Wünsche notiert und
sich entfernt hatte, fing Bentz an zu erzählen. Er begann mit dem Moment, in
dem er in seinem Krankenhausbett aus dem Koma erwacht war und einen
Temperatursturz verspürt hatte, unmittelbar bevor er seine tote Frau in der Tür
hatte stehen gesehen. Er erzählte Olivia auch von den anderen Erscheinungen
und schließlich, dass er Jennifer vor ein paar Tagen hinter ihrer Veranda entdeckt
hatte und dann der Briefumschlag mit der mit einem roten Fragezeichen
versehenen Sterbeurkunde und den Fotos eingegangen war.
Bei jeder Erscheinung, von der er ihr
berichtete, wurde Olivia ernster. »Ich verstehe das nicht«, flüsterte sie und
suchte seinen Blick. »Wie? Und warum?«
Er reichte er die Kopien, die er gemacht hatte,
und beobachtete, wie ihr Gesicht grau wurde. »Ich wünschte, ich wüsste eine
Antwort darauf.«
»Jennifer ist tot.« Sie blickte ihn an, als
suche sie eine Bestätigung. »Ja.«
»Es gab einen Abschiedsbrief, und du hast die
Leiche identifiziert.«
»Ich weiß.«
»Dann ...?«
»Möglicherweise eine Doppelgängerin.«
»Oder ... deine Einbildung.«
»Ich glaube nicht.« Er tippte mit dem Finger auf
die Fotos.
»Die hier sind echt.«
»Vielleicht hat sie jemand gefälscht.«
»Das ist möglich.«
»Rick, sie ist nicht mehr am Leben!« Olivia
räusperte sich und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Hast du ... hast du es
Kristi gesagt?«
»Sie war dabei, als ich aufgewacht bin. Sie
glaubt, ich hätte halluziniert, wegen der starken Medikamente oder als
Nachwirkung des Komas. Sagte, es wäre vermutlich nur eine >üble
Täuschung<. Ich wollte sie nicht beunruhigen, also hab ich die Sache nie
wieder angesprochen und sie ebenfalls nicht.«
Kristi sollte schließlich nicht denken, ihr
Vater hätte den Verstand verloren. Denn obwohl er sicher war, dass ihn jemand
schikanierte, hielt er es tief im Innern für durchaus möglich, dass ein paar
dieser Erscheinungen nur in seinem Kopf stattgefunden hatten.
Vielleicht hatten irgendwelche äußeren Einflüsse
einen Riegel in seinem Gehirn zurückgeschoben, und er wusste nicht mehr -
obwohl er das nur ungern zugab -, was wirklich und was ein Ausbund seiner
Fantasie war. »Sie hat die hier noch nicht gesehen?« Olivia deutete auf die
Fotos. »Nein.«
Olivia atmete langsam aus und starrte auf die
rot
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