Mercy - Die Stunde Der Rache Ist Nah
putzte und sich in dem beschlagenen Badezimmerspiegel
betrachtete, freute sie sich riesig, dass sie dieses neue Leben in sich trug,
da sie schon befürchtet hatte, es würde in Anbetracht ihres Alters schwierig
sein, ein Kind zu empfangen. Trotzdem hatte sie das Baby nicht als Vorwand
benutzt, ihn von seinen Nachforschungen in L.A. abzuhalten. Sie spuckte aus,
beugte sich zum Wasserhahn hinunter und spülte sich den Mund aus, dann richtete
sie sich wieder auf. Die Frau, die ihr aus dem beschlagenen Spiegel entgegenblickte,
schien sie im Stillen einen Feigling zu schimpfen, wie sie schuldbewusst
feststellte. Doch sie hatte aus gutem Grund nichts gesagt. Sie hatte einen
Streit vermeiden wollen, hätte es nicht ertragen können, Enttäuschung -
vielleicht sogar Unmut - in seinen Augen zu sehen. Sie glaubte nicht, dass er
ihr eine Abtreibung vorschlagen würde, doch sie wollte sich gar nicht erst mit
dieser Vorstellung auseinandersetzen. »Und du hast gedacht, du wärst immer
geradeheraus«, sagte sie laut zu ihrem verschwommenen Konterfei. »Bist du
nicht diejenige, die nie einen Rückzieher macht? Was zum Teufel ist bloß los
mit dir?«
Sie ließ die Hände auf ihren flachen Bauch
sinken. Ein Baby ... ein neuer Mensch, der jetzt, in diesem Augenblick, in ihr
heranwuchs. Und ihr Mann wusste nicht mal, dass sie schwanger war. Wollte es
nicht wissen. »Na super«, murmelte sie, fuhr sich mit dem Kamm durchs Haar und
warf sich ein Handtuch über, dann öffnete sie die Badezimmertür und wäre um ein
Haar über den Hund gefallen. Harry S. hatte es sich direkt davor gemütlich gemacht.
»Das ist aber gar nicht klug«, sagte sie zu ihm und tätschelte sein flauschiges
Köpfchen. »Aber mach dir keine Gedanken deswegen, in letzter Zeit passiert viel
in diesem Haus, was gar nicht klug ist.«
Harry pochte mit dem Schwanz auf den Fußboden,
dann folgte er ihr ins Schlafzimmer, wo sie sich anzog und versuchte, den
Gedanken zu verdrängen, dass ihr Mann meilenweit von ihr entfernt war, auf der
Jagd nach den Dämonen, die ihn seit zwölf langen Jahren verfolgten.
Der Flug verlief ohne besondere Vorkommnisse.
Einmal meinte Bentz, als er von einem Nickerchen erwachte, er würde Gardenien
riechen. Er blickte sich suchend in der Kabine der Boeing 727 um, fasste jeden
einzelnen Passagier ins Auge und erwartete schon fast, Jennifer auf einem Fensterplatz
zu entdecken, die dort in aller Seelenruhe ein Buch las. Natürlich würde sie
seinen Blick bemerken und ihn mit diesem aufreizenden kleinen Lächeln ansehen,
um ihm zu verstehen zu geben, dass sie von ihrer Verfolgung wusste. Doch sie
war nirgendwo auszumachen. Keiner im Flieger hatte auch nur die entfernteste
Ähnlichkeit mit seiner ersten Frau ... Ex-Frau, wie er sich wieder einmal ins
Gedächtnis rief.
Mit einem sanften Ruck setzte das Flugzeug mit
den hinteren Rädern auf der Landebahn des Los Angeles International Airport
auf, dann berührte das vordere Rad des Fahrwerks den Asphalt. Während die 727
zum Flugsteig rollte, waren die meisten Passagiere schon damit beschäftigt,
ihre Handys einzuschalten, die Sitzgurte zu lösen und das Gepäck im Fußraum
hochzuheben.
Nachdem sie den ganzen Flug über in ihr Buch
vertieft gewesen war, wuchtete die Frau auf dem Platz neben Bentz eine
Handtasche in der Größe von Guatemala auf ihren Schoß und durchwühlte sie
hektisch nach ihrem Mobiltelefon. Bentz wäre beinahe von dem Riesending
erschlagen worden. Er zog seinen Computer unter dem Vordersitz hervor, und sie
fand endlich ihr Handy, schaltete es ein und fing sofort an zu telefonieren. Er
war gezwungen, das Gespräch mit anzuhören, eine einseitige Unterhaltung, in
der sie über die neueste Freundin ihres Ex herzog. Zum Glück leerte sich die
Maschine schnell. Auf dem Weg zum Gepäckband rief Bentz Olivia an und
hinterließ ihr die Nachricht, dass er sicher gelandet war. Er fand seine Reisetasche,
dann mietete er einen kleinen SUV mit GPS-Navigationssystem. Das alles schaffte
er ohne den Gehstock, und obwohl seine Hüfte schmerzte, schleuderte er das verdammte
Ding auf den Rücksitz.
Er setzte den gemieteten Ford Escape aus der Parklücke
und schob sich seine Sonnenbrille auf die Nase. Die Gegend war ihm vertraut,
die Enge, die er in seiner Brust verspürte, neu. Es war Jahre her, dass er L.A.
mit einem schlechten Geschmack im Mund verlassen hatte - nun überrollten ihn
die alten Gefühle mit Wucht. Schuld wegen Jennifers Selbstmord, Gewissensbisse
wegen des Todes eines
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