Mercy - Die Stunde Der Rache Ist Nah
kehrte Bentz
ins dunkle Schlafzimmer zurück. Ihr Schlafzimmer.
Dem noch immer Erinnerungen, Verzweiflung und Schuld anhafteten. Wenn er Shana
Mclntyre Glauben schenken konnte, war hier Kristi gezeugt worden. Natürlich war
es möglich, dass Shana log, dass sie diesen Ort nur von ihren eigenen romantischen
Stelldicheins kannte. Schließlich hatte sie nie einen Hehl aus ihrer Abneigung
gegen Bentz gemacht. Sie würde es genießen, ihm einen makaberen Streich zu
spielen, nur um ihn leiden zu sehen.
Er konnte den Geruch nach längst vergessenem Sex
beinahe riechen und heftete den Blick auf ein staubiges Regal an einer Wand.
Ein paar Bücher lagen darin, die Seiten und Deckel vergilbt. Andere waren auf
dem Fußboden verteilt - die Ecken sahen aus, als wären sie Nagetieren zum Opfer
gefallen. Er hob eins auf, einen Justiz-Thriller aus den Neunzigern. Ein Buch,
das Jennifer gelesen hatte. Er erinnerte sich, mit ihr darüber gesprochen zu
haben. Ihr Exemplar?
Seine Kehle wurde trocken, als er es
durchblätterte, dann warf er das Buch zur Seite. Die zunehmende Finsternis im
Zimmer kroch in seine Seele. Zufall, mehr nicht. Und trotzdem ...
Sein Blick fiel auf einen Schreibtisch vor einem
Wandschrank, dem ein paar Schubladen fehlten. Auf der zerkratzten Oberfläche
stand ein altes Telefon, der Hörer baumelte an einer Seite herab.
Hatte Jennifer wirklich ihre Stunden hier
verbracht? Nächte? Mit James? Rick ging zu den von außen mit Brettern
vernagelten Fenstertüren hinüber. Die Scheiben waren gesprungen. Einst hatten
die Türen zu einem kleinen, auf den Innenhof blickenden Balkon geführt. Bentz
versuchte, sie zu öffnen, aber die Türflügel gaben nicht nach. Es wurde von
Sekunde zu Sekunde dunkler, der muffige Geruch im Zimmer raubte ihm fast den
Atem. Er ließ den Strahl seiner Taschenlampe über eine abgewetzte Chaiselongue
gleiten. Aus dem zerfetzten Samtbezug, der einst eisblau gewesen sein musste
und jetzt von einem schmuddeligen Grau war, quoll der Schaumstoff. Bentz'
Muskeln verkrampften sich, als er den schmalen Lichtkegel auf das Bett
richtete, das jetzt nicht mehr als eine fleckige Matratze auf einem
verrottenden Bettgestell war. Er starrte auf das Durcheinander und versuchte,
sich das Zimmer so vorzustellen, wie es vor beinahe dreißig Jahren ausgesehen
hatte, als Jennifer und James ihre Affäre begonnen hatten. Sicher hatte ein
Teppich auf den nackten Dielen gelegen. Die eisblaue Chaiselongue war neu und
prall gepolstert, der Schreibtisch aus altem, glänzendem Palisander. Das Bett
hatte einladend gewirkt mit seinen glatten Laken und der kuscheligen Bettdecke.
Hier mochte ein Schreibtischsessel gestanden
haben, vielleicht im selben Eisblau wie die Chaiselongue. Ein schwarzer Talar
und ein Kollar, nachlässig über die Rückenlehne geworfen.
Bentz ballte eine Faust und stellte sich seinen
Halbbruder vor. Vater James McClaren war ein gutaussehender Mann mit einem
Ministrantenlächeln gewesen: ausgeprägter Kiefer, leuchtend blaue Augen, die
viele Frauen, nicht nur Jennifer, für verführerisch gehalten hatten. Manchen,
darunter seine Ex-Frau, hatte es gerade die Herausforderung angetan, einen
Priester in die Knie zu zwingen. Andere, weniger willensstarke, hatten sich
hilfesuchend an ihren Geistlichen gewandt, nur um von dem skrupellosen James
verführt zu werden.
Selbstgerechter Sünder.
Bentz konnte fast das tiefe Lachen seines
Halbbruders hören, seine leisen Schritte auf dem Fußboden. In diesem Zimmer,
allein mit Jennifer, hatte sich James die Kleider vom Leib gerissen und der
kichernden, zurückweichenden Jennifer nachgestellt, sie geküsst und begonnen,
sie auszuziehen.
Oder war es umgekehrt gewesen? Hatte sie ihn in
knappen Dessous im Bett erwartet, auf seine Schritte gehorcht, auf die Tür
gestarrt, bis er ins Zimmer getreten war?
Es war gleichgültig. So oder so waren sie im
Bett gelandet und hatten sich wieder und wieder geliebt.
So viel zum Keuschheitsgelübde.
Merkwürdig, dachte Bentz jetzt, als er sich
diese Szene ausmalte. Viel von seinem Zorn und seiner Empörung war im Laufe der
Zeit verflogen. Die lodernde Flamme des Betrugs war zu verlöschender Glut
herabgebrannt. Es war so lange her.
Und jetzt gab es Olivia. Seine Frau. Die Frau,
die er liebte. Warum war er hier, wenn sie in New Orleans auf ihn wartete? Was
hatte er in Kalifornien verloren? Jennifer war tot.
Auch wenn er für den Bruchteil einer Sekunde den
Geruch nach Gardenien, einen Hauch ihres Parfüms, schnupperte. Ja,
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