Mercy - Die Stunde Der Rache Ist Nah
schweißgebadet unter die
Dusche trat.
Er wusch sich mit dem winzigen Stück Hotelseife,
schäumte sich die Haare mit dem Fingerhut voll Shampoo ein und spülte den
Schmutz, Staub und Schweiß des Tages ab. Der Strahl war schwach, aber warm, und
Bentz ließ das Wasser über seine Hüfte und sein Knie rinnen, die zu pochen begonnen
hatten und ihn wieder einmal daran erinnerten, dass er älter wurde und sich
noch nicht richtig von seinem Unfall erholt hatte. Er konnte nicht Geister die
Treppen hinauf, durch Innenhöfe und schmutzige, düstere Gänge jagen und
erwarten, dass er nicht dafür bezahlen musste. Bentz trat aus der Dusche,
trocknete sich mit einem weiteren äußerst fadenscheinigen Handtuch ab, ließ
sich aufs Bett fallen und richtete die Fernbedienung auf den Fernseher.
Ein Sender brachte eine Eilmeldung.
Tatortaufnahmen. Die Kamera schwenkte über die Unterquerung eines Freeway,
Polizeibeamte bearbeiteten ein abgesperrtes Gebiet, eine Lagereinheit, davor
eine Reporterin in blauer Jacke, die mit nüchterner Miene in die Kamera blickte
und in ihr Mikrophon sprach. »Heute haben Polizeibeamte in einem Lagerabteil
unter dem Harbour Freeway eine entsetzliche Entdeckung gemacht: die Leichen
zweier Mädchen, unseren Quellen nach Schwestern - Zwillinge -, Opfer eines grausamen
Doppelmords.«
»Was?« Bentz erstarrte, die Fernbedienung in der
Hand, den Blick auf den kleinen Bildschirm geheftet. »Die Namen der Opfer
wurden mit Rücksicht auf die zu informierenden Angehörigen zurückgehalten. Wie
aus Polizeikreisen verlautet, wurden die Mädchen heute früh als vermisst
gemeldet, am Tag ihres einundzwanzigsten Geburtstags.« Die Reporterin machte
eine bedeutungsvolle Pause, dann fügte sie hinzu: »Sie haben diesen Tag nicht
mehr feiern können, das große Ereignis, zu dem sie ihre Familie und enge Freunde
eingeladen hatten.«
»Himmel!« Mit einem Ruck setzte sich Bentz auf.
Das De-já-vu schnürte ihm die Kehle zu. Zwillinge?
An ihrem einundzwanzigsten Geburtstag? Die Einstellung
wechselte, und Bentz entdeckte Detective Andrew Bledsoe, ein paar Pfund schwerer,
als er ihn in Erinnerung hatte, das schwarze Haar grau meliert. Er sprach mit
der Reporterin, wirkte ernst und beunruhigt, gab ihr keine konkrete Auskunft,
doch Bentz kannte die Wahrheit.
Er ließ sich auf das billige Kissen zurücksinken
und fühlte sich elend.
Polizisten gaben nicht viel preis, aber Bentz
konnte zwischen den Zeilen lesen. Das Los Angeles Police Department befürchtete,
dass der Einundzwanziger-Killer, ein Irrer, der in der Vergangenheit schon
einmal gemordet hatte und ungeschoren davongekommen war, wieder zugeschlagen
hatte. Und zwar mit voller Wucht.
15
»Es tut mir leid«, hallte Bentz' Stimme von der
anderen Seite des Tunnels zu ihr. »Ich muss das tun!«
»Nein! Geh nicht! Rick, verlass mich nicht!
Verlass uns nicht!«
Mit hölzernen Beinen und hämmerndem Herzen stürzte Olivia durch die Dunkelheit
hinter ihm her und stolperte über Gleise und Kies. Er war nicht weit von ihr
entfernt, drehte sich zwar um und blickte sie an, rannte jedoch weiter.
»Rick!«, schrie sie. »Bleib stehen!«
»Ich kann nicht.«
»Aber das Baby. Rick, wir bekommen ein Baby!«
Ein Geräusch, laut und durchdringend. Das Donnern einer schweren Lokomotive,
das Klackern von Rädern auf Schienen.
Bentz wandte sich ab, als hätte er sie nicht
gehört, und lief weiter durch den endlosen Tunnel. Olivia blieb zurück.
Keuchend versuchte sie, der riesigen Lok mit ihrem Verderben bringenden Licht
zu entkommen. Nein!
Ein Pfeifen ertönte, so laut, dass sie dachte,
ihre Trommelfelle würden platzen. Nein!
O Gott, nein!
»Rick! Hilf mir!«, kreischte sie, während das
Ende des Tun nels immer kleiner wurde, sich immer weiter zu entfernen schien.
Ihr Herz wummerte, und ihre Beine waren schwer, so schwer ...
»Bentz!« Sie versuchte zu schreien, doch ihre
Kehle war wie zugeschnürt, ihre Stimme ein Flüstern. Er drehte sich kurz noch
einmal um, und sie sah seine Dienstmarke, in der sich das helle Sonnenlicht
spiegelte. »Ich kann nicht«, sagte er. Dann war es Nacht, und plötzlich war er
nicht mehr allein. Eine Frau war bei ihm, eine schöne Frau mit langem dunklem
Haar und blutroten Lippen. Sie nahm seine Hand, verschränkte ihre Finger mit
seinen und lächelte bösartig und voller Schadenfreude, als sie ihn mit sich
fortzog. »Nein! Warte! Rick-«
Der Zug kam donnernd näher, die Schienen
zitterten. Olivia stolperte.
Ein entsetzliches Pfeifen
Weitere Kostenlose Bücher