Mercy - Die Stunde Der Rache Ist Nah
bewegten
sich nicht. Sie roch nach Brackwasser und Tod. Ihre gläsernen Augen waren
direkt auf ihn gerichtet. Er bekam eine Gänsehaut, und das Blut in seinen Adern
wurde so kalt wie der Ozean. Er versuchte, von ihr herunterzurollen, doch sie
umschlang ihn, hielt ihn fest wie ein Schraubstock.
»Es ist deine Schuld, RJ«, sagte sie mit starren
Lippen. »Deine!«
Bentz bäumte sich auf, versuchte, sich aus ihrer
Umklammerung zu befreien - und schlug die Augen auf. Er lag in seinem Bett im
So-Cal Inn. Allein. Ohne Olivia. Ohne Jennifer. Allein mit seiner Schuld.
Seiner verdammten Schuld. Er stieß die Luft aus und stellte fest, dass er
schweißgebadet war. Der Traum war so real gewesen! So aufrüttelnd und
beängstigend. Er wollte Olivia anrufen, doch ein Blick auf die Uhr sagte ihm,
dass es null Uhr siebenundvierzig war. Etwa drei Uhr in Louisiana. Er würde
warten müssen. Er stieg aus dem Bett, trat ans Fenster und öffnete die Blendläden,
um auf den nächtlichen Parkplatz hinauszublicken. Abgesehen von den üblichen
Fahrzeugen war er leer. Noch immer aufgewühlt, ging Bentz ins Badezimmer und
spritzte sich mit den Händen Wasser ins Gesicht. Er redete sich ein, schon Schlimmeres
im Leben durchgestanden zu haben, und nahm eine Ibuprofen gegen die Schmerzen
in seinem Bein. Dann kehrte er ins Bett zurück. Er stellte den Fernseher an und
zappte durch die Sender auf der Suche nach etwas Seichtem, das ihn von seinen
Gedanken ablenken würde, wenngleich er nicht eine Sekunde lang daran glaubte,
dass eine Late-Night-Talkshow seinen Traum zerstreuen würde. Er würde ganz
einfach damit leben müssen.
Nach einer unruhigen Nacht fand Bentz am
nächsten Morgen einen Laden, in dem er sein Handy ersetzen konnte. Er war der
erste Kunde, der das Einkaufszentrum betrat, und er sah furchtbar aus. Aber
immerhin verließ er das Geschäft mit einem neuen Mobiltelefon.
Zwei Türen weiter wurde Freizeitbekleidung
verkauft, und Bentz erstand ein Paar Khakis und eine preiswerte Sportjacke.
Die Schuhe würden warten müssen. Er kehrte zum Motel zurück, duschte und
rasierte sich, dann rief er Olivia an und hinterließ ihr eine Nachricht. Die
nächsten Stunden verbrachte er damit, die Rädchen in seinem Gehirn kreisen zu
lassen und aus dem Gedächtnis Nummern in sein neues Handy zu speichern. Er
fügte die Ereignisse der vergangenen Tage zusammen und fragte sich, woher die
Frau - »Jennifer« - gewusst hatte, wo er sich aufhalten würde. Soweit er sagen
konnte, war sein Zimmer nicht verwanzt. Er hatte keine Abhörgeräte in irgendwelchen
versteckten Nischen entdeckt, und er konnte sich auch nicht erinnern, dass er
seine Pläne am Telefon erörtert hätte. Bentz überprüfte seinen Mietwagen ein
zweites Mal, doch wieder konnte er keinen Peilsender ausfindig machen, weder
unter dem Fahrgestell noch im Radkasten. Trotzdem hatte »Jennifer« gewusst,
wohin er fuhr, wo er gewesen war. Wie? Und warum tat sie das alles?
Den Fernseher im Motelzimmer auf einen
Nachrichtenkanal eingestellt, die Blendläden geöffnet, damit er nicht gänzlich
von der Außenwelt abgeschnitten war, nippte Bentz an seinem lauwarmen Kaffee
und dachte wieder an die vergangene Nacht. Was zum Teufel hatte sich auf dem
Pier bloß abgespielt? Sie war da gewesen. Er hatte sie gesehen, doch Hayes
hatte ihm erzählt, dass die Cops die Leute auf dem Pier vergeblich befragt
hätten - den alten Mann und das junge Pärchen, das so sehr mit sich selbst
beschäftigt gewesen war. Hayes hatte sich auch nach dem Jogger erkundigt, doch
ihn hatte man nicht ausfindig machen können, und es hatte sich auch keiner an
ihn erinnert. Bentz machte sich im Geiste eine Notiz, obwohl der nicht
auffindbare Jogger vermutlich keine große Bedeutung hatte.
Auf seinem Laptop googelte er Bilder des
Santa-Monica-Piers und stieß auf eine Webcam, eine Kamera, die alle vier
Sekunden den Eingang zum Pier fotografierte. Vielleicht käme er an die Fotos
vom gestrigen Abend heran, und auch an die von den Verkehrsüberwachungskameras.
Obwohl er nicht mehr als Polizist in L.A. arbeitete, besaß er doch eine
Dienstmarke und einen gewissen Einfluss. Bis elf Uhr hatte er mit der
Sicherheitsfirma gesprochen, die die Kamera auf dem Pier betrieb, und ihr das
Versprechen abgenommen, die Bilder vom Abend zuvor zu überprüfen. Anschließend
hatte er bei einer Kanne Kaffee das Internet nach einer Klinik oder sonstigen
medizinischen Einrichtung durchforstet, die die abgelaufene Parklizenz ausgestellt
haben
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