Mercy Thompson 01 - Ruf des Mondes-retail
Deshalb hatte Charles im Wald auch als seine Stimme fungieren können. Bran nutzte
diese Fähigkeit unter anderem, um die anderen nordamerikanischen Rudel zu beherrschen. Er hatte mir mal erklärt, sein Talent funktioniere nur in eine Richtung, sodass er andere dazu bringen könne, ihn zu hören, aber nicht anders herum.
Im Rudel hingegen wird im Flüsterton behauptet, dass Bran auch noch über andere Talente verfügte, aber niemand weiß genau, worin sie bestehen. Wenn man dem geläufigsten Gerücht glaubt, kann er Gedanken lesen. Er hatte jedenfalls immer ganz sicher gewusst, wer für welchen Unfug in der Siedlung verantwortlich war.
Meine Pflegemutter pflegte bei solchen Gelegenheiten zu lachen und zu erklären, es hinge mit seinem Ruf zusammen, alles zu wissen, was ihn unfehlbar scheinen ließ; er müsse nur hereinkommen und feststellen, wem man sein schlechtes Gewissen von den Augen ablesen könne. Vielleicht hatte sie recht, aber selbst wenn ich versuchte, unschuldig dreinzuschauen, hatte es nie funktioniert.
»Ich breche gleich am Morgen auf .« Früh, dachte ich. Um davonzukommen, ohne noch einmal mit Samuel sprechen zu müssen – aber auch, um mit der Suche nach Jesse anzufangen.
Bran schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn. »Am Nachmittag.«
Ich spürte, wie ich die Brauen hochzog. »Nun ja«, sagte ich leise, »Wenn du schon weißt, was ich machen werde, warum hast du es mir nicht gleich gesagt, statt zu fragen?«
Er sah mich durchdringend an. »Wenn du bis zum Nachmittag wartest, wird Adam reisefertig sein, und Samuel sollte etwas darüber wissen, wie dein junger Mann … wie Alan MacKenzie Frazier starb. Er bleibt heute Nacht auf, um die Autopsie und die Labortests durchzuführen.«
Er beugte sich vor. »Es war nicht deine Schuld, Mercy.«
Ich verschüttete Kakao über mein T-Shirt. »Schei –« Ich
brach ab. Bran hatte etwas gegen solche Begriffe. »Du kannst tatsächlich Gedanken lesen.«
»Ich weiß nur, wie Gedanken funktionieren«, sagte er mit einem kleinen Lächeln, das man nicht unbedingt hätte selbstzufrieden nennen können. Aber er war schnell genug dabei, eine Rolle Papiertaschentücher unter dem Spülbecken herauszuholen und mir zu reichen, als ich das T-Shirt von mir wegzog. Der Kakao war immer noch warm, wenn auch nicht heiß.
Während ich mich an der Spüle abtrocknete, fuhr er fort. »Und wenn du dich nicht noch mehr verändert hast, als ich glaube, denkst du, wenn so etwas passiert, wenn jemand verletzt wird, dass es deine Schuld ist. Ich habe die Geschichte von Adam gehört, so weit er sie kennt, und sie hatte nichts mit dir zu tun.«
»Ach was – du kannst Gedanken lesen! Adam ist immer noch in Wolfsgestalt und kann nicht reden.« Ich hatte mit dem T-Shirt getan, was ich konnte, aber ich wünschte mir, ich hätte ein paar von meinen Sachen mitgebracht.
Bran lächelte. »Nein, es ist nichts weiter als das, was ich sage. Manchmal hilft die Veränderung uns, schneller zu heilen. Normalerweise verändern wir uns von Mensch zu Wolf, aber es funktioniert auch in die andere Richtung. Er hat sich ziemlich über Samuel geärgert.« Brans Lächeln wurde ausgeprägter. »Er hat seine ersten Worte darauf verschwendet, ihn zu beschimpfen. Sagte ihm, einen Mann im Feld zu hinterfragen, sei ein Amateurfehler. Er erklärte, er wolle lieber nichts mit jemandem zu tun haben, der nicht weiß, was er tut, und sich trotzdem in seine Heilung einmischt. Er hat auch gesagt, du hättest manchmal eben mehr Mumm als Verstand.« Bran hob seinen Styroporbecher. »Da konnte ich nur zustimmen – weshalb ich Adam auch gebeten habe, dich im Auge zu behalten, als du in sein Territorium gezogen bist.«
Aha, dachte ich und versuchte, mir nicht ansehen zu lassen, wie mich das traf. Er hatte Adam also befohlen, sich um mich zu kümmern? Ich hatte immer angenommen, die seltsame Beziehung zwischen Adam und mir basiere auf etwas anderem. Zu wissen, dass er in Brans Auftrag auf mich aufgepasst hatte, veränderte meinen Rückblick auf jedes Gespräch, das wir jemals geführt hatten, und ließ es irgendwie kleiner werden.
»Ich mag keine Lügen«, stellte Bran fest, und ich wusste sofort, dass es mir nicht gelungen war, meinen Schmerz über seine Worte zu verbergen. »Nicht einmal Auslassungen. Mit harten Wahrheiten kann man umgehen und sich gegebenenfalls auch über sie hinwegsetzen, aber Lügen zerstören die Seele.« Er sah aus, als wüsste er, wovon er sprach. »Das führt mich manchmal dazu, mich
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