Mercy Thompson 02 - Bann des Blutes-retail
seine Stimme dunkel von einer Bitterkeit, die ich selten bei ihm gehört hatte. »Ich hätte ihr beinahe gesagt, dass ich schon Schlimmeres gesehen habe – und auch gefressen. Das Baby wäre nur eine Zwischenmahlzeit gewesen.«
Ich hätte gehen können. Samuel verfügte über genug Beherrschung, mich nicht zu verfolgen – das war zumindest sehr wahrscheinlich. Aber ich konnte ihn nicht einfach im Stich lassen, solange er in dieser Verfassung war.
Ich bewegte mich vorsichtig über den Boden und hielt Ausschau nach der geringsten Bewegung, die andeutete, dass er bereit war, mich anzugreifen. Langsam hob ich die Hand, bis sie seine berührte. Er reagierte nicht.
Wäre er ein neuer Wolf gewesen, hätte ich gewusst, was ich sagen sollte. Aber neuen Wölfen in solchen Situationen zu helfen, hatte in dem Rudel, in dem wir aufgewachsen waren, zu Samuels Aufgaben gehört. Alles, was ich sagen konnte, wusste er schon längst.
»Der Wolf ist ein praktisch denkendes Tier«, erklärte ich schließlich, denn ich dachte, es könnte der Gedanke gewesen sein, dass er das Baby fressen könnte, der ihn so beunruhigte. »Du bist vorsichtig. Du wirst nicht einfach auf den Operationstisch springen und jemanden angreifen, wenn du keinen Hunger hast.« Das war nun doch beinahe Wort für Wort die Ansprache, die er mitunter neuen Wölfen hielt.
»Ich bin so müde«, sagte er, und das sträubte mir die Nackenhaare. »Zu müde. Ich denke, ich muss mich ausruhen.« Und damit meinte er nicht seinen Körper.
Werwölfe sind nicht unsterblich, nur immun gegen das Altern. Aber die Zeit ist trotzdem ihr Feind. Nach einer langen Lebensspanne, hatte ein Wolf mir einmal erzählt, wurde einem alles gleich, und Sterben kam einem besser vor als noch einen Tag weiterzuleben. Und Samuel war sehr alt.
Der Marrok, Samuels Vater, hatte sich angewöhnt, mich einmal im Monat anzurufen, um »sich zu erkundigen«, wie er sagte. Zum ersten Mal kam mir der Gedanke, dass er damit nicht unbedingt erfahren wollte, wie es mir ging, sondern danach, was sein Sohn machte.
»Wie lange fühlst du dich schon so?«, fragte ich und schob mich vorsichtig auf sein Bett zu, um ihn nicht zu erschrecken. »Hast du Montana verlassen, weil du diese Verfassung nicht vor Bran verstecken konntest?«
»Nein. Ich bin wegen dir hier«, sagte er barsch und bewegte den Arm, so dass ich sehen konnte, dass seine Augen nun wieder ein menschliches Graublau hatten.
»Ach ja?«, fragte ich, denn ich wusste, dass das nicht vollkommen der Wahrheit entsprach. »Dein Wolf will mich vielleicht immer noch haben, aber ich glaube nicht, dass du das willst. Warum hast du den Marrok verlassen, um hierherzukommen?«
Er rollte sich herum und drehte mir den Rücken zu. Ich rührte mich nicht von der Stelle, weil ich ihn nicht bedrängen wollte. Ich zog mich allerdings auch nicht zurück, sondern wartete auf seine Antwort.
Schließlich kam sie. »Es war schlimm. Nach Texas. Aber als du zu uns zurückkamst, ging es weg. Es ging mir gut. Bis zu dem Baby heute.«
»Hast du mit Bran darüber gesprochen?« Was immer es sein mochte. Ich legte das Gesicht an seinen Rücken und wärmte ihn mit meinem Atem. Samuel würde Selbstmord für
feige halten, versuchte ich mich zu beruhigen. Und Samuel hasste Feiglinge. Ich mochte ihn vielleicht nicht lieben – nicht nach all den Schmerzen, die wir uns gegenseitig zugefügt hatten –, aber ich wollte ihn auch nicht verlieren.
»Der Marrok weiß es«, flüsterte er. »Das tut er immer. Alle anderen glaubten, ich wäre der Gleiche wie stets. Mein Vater wusste, dass etwas nicht stimmte, dass etwas nicht in Ordnung war, und dass ich gehen würde – aber dann kamst du.«
Wenn selbst Bran ihm nicht helfen konnte, was sollte ich dann tun?
»Du hast das Rudel vor langer Zeit verlassen«, sagte ich und tastete mich vorsichtig weiter. Er hatte Aspen Creek kurz nach mir verlassen, vor fünfzehn Jahren, und war den größten Teil dieser fünfzehn Jahre nicht zurückgekehrt. »Bran sagte mir, du hättest als Einsamer Wolf in Texas gelebt.« Wölfe brauchen ihr Rudel, oder sie werden ein wenig merkwürdig. Einsame Wölfe waren im Allgemeinen ein seltsamer Haufen, gefährlich für sich selbst und andere.
»Ja.« Jeder Muskel in seinem Körper spannte sich an, wartete auf den nächsten Schlag. Ich kam zu dem Schluss, dass ich mich auf der richtigen Spur befand.
»Es ist nicht einfach, allein zu sein – vor allem so lange.« Ich rutschte ein wenig näher, bis ich mich an
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