Merkels Tochter. Sonderausgabe.
vorzubringen. Heinen kam ihm noch einmal zuvor, betrachtete ihn etwas kritischer als der hilfsbereite Autofahrer. «Was ist denn mit Ihnen passiert? Sie sind ja verletzt.»
Merkel winkte ab, erzählte noch einmal die gleiche Geschichte. «Nicht der Rede wert. Ich bin mit zwei Halbstarken aneinander geraten. Einer wollte meine Uhr, und er hatte ein Messerchen. Hat sie mir glatt vom Handgelenk geschnitten. Hier», er griff in die Hosentasche, hielt Heinen das demolierte Stück hin. «Als ob sich das gelohnt hätte für das alte Ding.»
Dann erst erkundigte er sich: «Was will Kurt denn von mir? Das hat doch sicher Zeit bis morgen? Ich komme am Nachmittag ins Präsidium. Jetzt muss ich zum Dienst. Ich bin ohnehin schon spät dran.»
«Morgen ist Samstag», erklärte Heinen mit einem nachsichtigen Lächeln. «Ich glaube nicht, dass Herr Seifert dann in seinem Büro ist. Und ich glaube auch nicht, dass es Zeit hat, Herr Merkel.» Noch während er sprach, griff er nach Merkels unverletztem Arm. «Ich habe Verbandszeug im Wagen. Wir sollten zuerst Ihre Wunde ordentlich versorgen.»
Und während Heinen ihn sanft, aber bestimmt durch die Tür hinaus auf den Flur und zur Treppe dirigierte, erkundigte er sich: «Welcher von den beiden Halbstarken hat Sie denn verbunden? Tragen die neuerdings auch gleich das Verbandszeug bei sich? Hatte aber nicht sehr viel Übung, das Kerlchen.» Es war offensichtlich, dass er Merkel kein Wort geglaubt hatte.
«Den Verband habe ich selbst angelegt», erwiderte Merkel. «Ich habe mir in der nächsten Apotheke etwas Mull besorgt. So konnte ich es ja nicht lassen.»
Sie hatten die Straße erreicht, mit der Hand am Arm dirigierte Heinen ihn zu einem Wagen, der am Straßenrand geparkt stand, öffnete die Beifahrertür, schob ihn auf den Sitz und zog einen Kasten darunter hervor, der große Ähnlichkeit mit Ohloffs Kasten hatte. Dann entfernte Heinen die lose gewickelten Mullstreifen und pfiff durch die Zähne.
«Das sieht böse aus. Damit müssen Sie zum Arzt. Das muss genäht werden.»
«Das hat aber noch Zeit», antwortete Merkel, während Heinen sich daranmachte, die Wundränder zusammenzudrücken und den Arm neu zu verbinden. Er war sehr geschickt, der Verband saß stramm. Strammer jedenfalls als der, den Merkel Ohloff ums Bein gewickelt hatte. Heinen verstaute den Kasten wieder und setzte sich hinters Steuer.
«Was will Seifert denn von mir?», fragte Merkel noch einmal.
«Ich denke, das wird er Ihnen persönlich erklären», sagte Heinen knapp.
Das tat Kurt Seifert wenig später. Und diesmal verließ Heinen das Büro nicht, saß dabei, schweigend und mit regloser Miene. Seinem Ton nach zu schließen, kochte Kurt vor Wut und schaffte es nur mühsam, seine Stimme im Zaum zu halten. «Hast du gedacht, du kannst auf eigene Faust ermitteln, Hein? Das war aber nicht Sinn der Aktion. Wann ist dir aufgefallen, dass Irenes Tasse nicht da war, wo sie sein sollte?»
Es war für Merkel ein harter Tag gewesen, genau genommen ein paar harte Tage hintereinander. Er war müde, zu erschöpft, um lange nach einer Ausrede zu suchen. Gleichzeitig fühlte er sich sicher. Kurt mochte toben und ihn in die Mangel nehmen, Ohloff würde er trotzdem nicht bekommen.
«Aufgefallen ist es mir sofort», antwortete er. «Ich habe nur nicht sofort darüber nachdenken können. Als ich dann am Montag sah, dass nur eine Tasse im Geschirrspüler stand …»
Er erläuterte seine Theorie von der zerbrochenen Tasse, die zu Boden gefallen sein musste, als Irene mit dem Gesicht auf die Nähmaschine fiel. Der Mörder hatte die Scherben beseitigt, sie vielleicht mitgenommen und irgendwo unterwegs in einen Mülleimer oder auf eine Baustelle geworfen.
Kurt schüttelte zwar den Kopf, ließ ihn jedoch ausreden. Heinen schwieg ebenfalls. Der Arm klopfte wie verrückt. Merkel musste ihn hochnehmen, legte ihn sich quer über die Brust und die Hand auf die Schulter. Als er zum Ende kam, sagte Kurt nur: «Nein.»
Heinen war seit Montag noch zweimal in Irenes Haus gewesen. Einmal hatte Kurt ihn begleitet. Sie hatten sich sehr gründlich umgeschaut und herauszufinden versucht, wonach Merkel gesucht hatte. Und da er mit dem Geschirrspüler begonnen hatte – Geschirr. In den Küchenschränken stand eine Menge Porzellan, auch ein Kaffeeservice für den Alltagsgebrauch mit sechs Gedecken. Fünf sauber gespülte Tassen im Schrank und die sechste benutzt in der Maschine. Es fehlte keine einzige. Und auch, wenn sie nichts von Irenes Marotte wussten,
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