Merlins Drache II - Die Große Aufgabe: Roman
Rohes zum Kauen.
D ie grünen Flammen prasselten laut und teilten sich wie ein Vorhang, als sich eine Hand durchschob und nach der feuchten Luft griff. Die Hand streckte sich weiter vor, gefolgt von einem schlanken, muskulösen Unterarm und einer kräftigen Schulter. Dann kam ein Kopf, der sich zu dem eines jungen Mannes verlängerte und mit weißen Haaren gekrönt war.
Krystallus trat aus der Pforte. Er befand sich auf einer kleinen unbewohnten Insel mit Sanddünen und geflochtenen Zöpfen aus Wasserähren. Aufrecht stand er da, die Hände an den Hüften, und schaute hinaus auf den Strand mit den blauen und goldenen Seesternen und Tangfetzen, die darüber verstreut waren – und auf die riesige Weite des tiefblauenMeers dahinter. Er nahm einen tiefen Atemzug und füllte seine Lungen mit würziger Luft, die so viel Salz enthielt, dass sie fast wie ein herzhaftes Mahl schmeckte.
»Brynchilla«, sagte er ausatmend. Wohin er auf seinen Reisen auch kam, immer bevorzugte er die Namen der Einheimischen. Brynchilla, der Ausdruck der Elfen für
Reich des Wassers,
kam ihm viel poetischer vor als der allgemein gebräuchliche Name Wasserwurzel. Auch wenn er von seiner verachteten Rivalin, der Elfenkönigin Serella, geprägt worden war, passte er so genau wie Wasser in eine Bucht.
Während er den Horizont betrachtete, eine ununterbrochene blaue Meeresfläche, die nahtlos in das hellere Blau des Himmels überging, holte er das Notizbuch aus seiner Tunikatasche, öffnete den gerippten Lederdeckel und machte, was er immer nach seiner Ankunft irgendwo in Avalon machte: Er zeichnete eine Karte. Sekundenschnell füllten die Linien seiner liebsten Fischadlerfeder – die er in eine Phiole mit Tinte vom Tintenfisch tauchte – das Blatt, zeigten die Umrisse der Insel, die Form des Horizonts, ebenso die Stelle der Pforte, Wind, Meereswellen und sichtbare Lebenszeichen.
Während er die Karte zeichnete, nickte er grimmig. Er wusste, wo er war, obwohl er diese besondere Pforte in den fernsten Gewässern von Brynchilla noch nie entdeckt hatte. Und, noch wichtiger, er wusste, wo er
nicht
war. Diese Insel war so weit vonder vulkanischen Feuergrube namens Rahnawyn entfernt, wie man nur kommen konnte. Doch die Erinnerungen an diesen Ort und an die bittere Auseinandersetzung mit seinem Vater gingen ihm immer noch zu nahe.
Sein Herz raste wütend. Wie konnte sein Vater für so weise gehalten werden, wenn er in Wirklichkeit so töricht war? Wie konnte er so wenig an ihn glauben, so wenig Vertrauen in seinen eigenen Sohn setzen? Krystallus ballte beide Hände, als er wieder an die Worte bei ihrer Trennung dachte – wahrscheinlich die letzten Worte, die sie je zueinander sagen würden.
»Ist mir recht«, murmelte er und drückte die Fäuste fester zusammen. »Mir macht es nichts aus, wenn ich ihn nie mehr sehe und schon gar nicht mehr mit ihm rede!« Er hatte sein eigenes Leben, seine eigenen Ziele, von denen nicht das geringste die Schaffung einer Hochschule war, die dem Kartenzeichnen und der Erforschung von Avalon gewidmet sein sollte. Und dieses Leben hatte gar nichts mit seinem Vater zu tun. Er konnte leicht seine ganze Zeit damit verbringen, die fernsten Gebiete der Welt zu erforschen – und das war seit seiner Kindheit seine größte Leidenschaft gewesen.
Eine salzige Brise blies über das Meer und zerzauste ihm das Haar. Sie streichelte sein Gesicht und teilte den Kragen seiner einfachen braunen Tunika, als lade sie ihn ein. Sofort wusste Krystallus, was er in diesem wässrigen Reich am liebsten tun wollte.
Schwimmen!
Schnell verstaute er sein Notizbuch, öffnete den Gürtel, warf die Tunika ab und schleuderte die Lederstiefel in die Sanddüne hinter sich. Als er ins Wasser watete, fühlte er den jähen Schlag flüssiger Kühle an den Beinen. Seine Haut spannte sich, die Zehen hefteten sich an die glatten, von Algen überzogenen Steine unter ihm.
Er sprang ins Wasser und spürte die kalte Umarmung an Armen und Schultern, dann im Gesicht. Mit einem Platsch tauchte er auf, spritzte Wasser rundum und holte sich die Lungen voll Luft. Dann trieb er auf dem Rücken und schwang sanft Arme und Beine. Lange Strähnen weißen Haars strahlten von seinem Kopf wie schlanke Seetanghalme.
Er spähte in den dunstigen blauen Himmel und versuchte angestrengt, die Sterne zu unterscheiden. Ohne Glück. Sie lagen verborgen hinter ihrer eigenen Tageshelle, unsichtbar bis zum abendlichen Sternenuntergang. Seltsam, dachte er, wie weniger Licht sie
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