Messewalzer
nie die Gelegenheit gehabt, den Raum auf sich wirken zu lassen. Die Arbeit hatte beharrlich alles andere verdrängt. Was war das für eine Kammer? Hübsch, groß, hell mit einem netten Blick in den Garten. Zweifellos das Beste, was Seniorenheime weit und breit zu bieten hatten. Aber wie hatte Vogelsang sich ausgedrückt? Ich sitze nur im Rollstuhl in einem Altenheim und warte, dass meine Uhr endlich abläuft. Irgendwie war es bedrückend, sich an einem Ort aufzuhalten, von dem man wusste, es ist die letzte Station vor dem Finale. Ohne Familie, ohne Freunde und als einzige Kontaktadresse ein ehemaliger Kollege, der sich nicht blicken lässt.
Die Tür öffnete sich und eine Schwester kam herein.
Kroll hatte das Gefühl, seine Anwesenheit rechtfertigen zu müssen. »Das Krankenhaus hat mich gebeten, Herrn Vogelsang Waschzeug und Schlafanzüge zu bringen. Wie geht es ihm?«
»Er wird gerade untersucht. Die Ärzte wissen noch nicht, ob sie ihn operieren können.«
Kroll lächelte gequält.
»In dem Alter ist das nicht mehr so einfach. Mehr weiß ich leider auch noch nicht.« Die Schwester presste die Lippen zusammen. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Vielen Dank, ich such nur die Sachen fürs Krankenhaus zusammen und bin dann schon wieder verschwunden. Das schaff ich schon allein.«
Sie nickte Kroll kaum merklich zum Abschied zu und schloss die Tür.
Kroll sah sich im Zimmer um und versuchte, sich für zu sammeln. Er öffnete die Schranktür. Die Schlafanzüge waren kaum zu übersehen. Sie lagen frisch gebügelt und ordentlich zusammengefaltet in dem oberen Fach des Schrankes. Er nahm den Stapel und legte ihn aufs Bett. Für einen Moment hielt er inne. Eigentlich war seine Aufgabe so gut wie erledigt. Das Waschzeug würde er mit Sicherheit schnell im Bad finden. Es machte also keinen Sinn, weiterhin in den Sachen seines ehemaligen Kollegen zu suchen. Zudem empfand er es als nicht besonders anständig, die Gunst der Stunde zu nutzen, während Bernd Vogelsang mit dem Leben kämpfte. Aber die Versuchung war einfach zu groß. Zu viele offene Fragen rankten um seinen früheren Ausbilder. Und außerdem, dachte Kroll, wenn ich jetzt ein wichtiges Beweismittel finden würde, wäre das als sogenannter Zufallsfund sogar verwertbar. Letztlich war es die beruhigende Legalität, die sich zumindest plausibel darstellen ließe, die ihn ermunterte, sich weiter umzusehen. In den oberen Fächern der Schrankes waren noch weitere Kleidungsstücke untergebracht, Pullover, T-Shirts, Unterhemden, Socken, Unterwäsche und lange Unterhosen. Kroll führte seine Hand behutsam unter jedes Teil und tastete den Bereich darunter ab. Es war aber nichts Auffälliges zu finden.
Er schaute sich den Rest des Schrankes an. An der Kleiderstange hingen Anzüge, Jacketts und sorgfältig gebügelte Oberhemden. Unten, auf dem Bodenbrett des Schrankes, standen mehrere Schuhkartons in verschiedenen Größen. Kroll öffnete jeden einzelnen und untersuchte ihn sorgfältig, indem er die Schuhe und das Papier, das sich zwischen und in den Schuhen befand, herausnahm. Auch dort befand sich nichts Verdächtiges. Kroll schloss die Schranktür und legte sich auf den Boden, um unter den Schrank zu gucken. Anschließend streifte er mit seiner Hand die Rückwand des Möbels ab. Nichts Besonderes.
Erneut sah er sich im Raum um. Sein Blick blieb am Nachttischchen seines ehemaligen Ausbilders hängen. Kroll dachte nach. Eine Durchsuchung dieses Bereiches war sicherlich auch im Nachhinein nicht mehr mit einem Zufallsfund bei der Suche nach einem Schlafanzug zu rechtfertigen. Aber vielleicht nach einer Zahnbürste oder Medikamenten? Er sah kurz zur Tür, dann öffnete er die obere Schublade des Nachttischchens. Darin fand er tatsächlich Medizin in allen möglichen Formen, die ihn nicht näher interessierte. Weiterhin entdeckte er eine Taschenlampe, Taschentücher und ganz unten den Playboy mit Katarina Witt aus dem Jahre 1998. Kroll musste schmunzeln.
Er öffnete die kleine Tür des Tischchens, ein Schuhkarton kam zum Vorschein. Er nahm ihn heraus, setzte sich aufs Bett und öffnete gespannt den Deckel. Lauter Fotos quollen ihm entgegen, überwiegend SchwarzWeiß-Aufnahmen, deren Glanz schon matter wurde und die an den Rändern ausfransten. Kroll nahm einige Fotos aus der Schachtel und betrachtete sie genauer. Nahezu auf jedem von ihnen war Vogelsang zu sehen, meist in der Uniform der Nationalen Volksarmee. Ein Bild, das relativ weit oben lag, erweckte Krolls Aufmerksamkeit
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