Metropolis brennt
Abend und außerdem ein Wochenende mitten im Monat. Die Scharen der Gräulinge, die sich die Fahrt aufs Land nur einmal im Monat leisten konnten, strömten meistens erst am Monatsende zur Mauer. Bei ihrem niedrigen Lohn hätten sie sich die Fahrt eigentlich nur einmal im Jahr leisten können, als Geburtstagsgeschenk sozusagen. Da diese Tage auf dem Land aber vor allem dem sozialen Ausgleich dienen sollten, damit die unterprivilegierten Schichten ruhig gehalten wurden, hatte man die Gebührensätze entsprechend ermäßigt und den jeweiligen Einkommen der anderen Gruppen angeglichen. Norman schien dies durchaus sinnvoll zu sein. So wurde der in der Stadt herrschende Status quo mit Leichtigkeit aufrechterhalten. Die Menschen in den Arbeitervierteln kamen, ehe in ihnen der aggressive Widerstandstrieb aufflammen konnte, rechtzeitig in diese herrliche Freizeitzone und verdrängten und vergaßen ihre Sorgen, Ängste und Nöte sehr schnell und sehr wirksam. Und es gab praktisch keinen, der die Fahrten freiwillig versäumt hätte.
Dennoch waren die Menschen einsam, diese gelegentlichen Ausflüge konnten das nicht verdecken. Zumindest fühlte Norman sich selbst einsam und ausgebrannt.
Norman mußte fast eine Stunde warten, bis er an der Reihe war. In den Wartesälen und im Dorf galt das Gleichheitsprinzip; hier hatte er als grüngekleideter Beamter keine Vorrechte. Auch wenn er das im Grunde akzeptierte, so fluchte er doch, wenn er so lange warten mußte. Irgendwo mußte auch Gleichheit ihre Grenzen haben. Immerhin: Er hatte manches Mal schon mehr als drei Stunden warten müssen.
Endlich konnte er in eine der Duschkabinen treten. Er streifte sich den Coverall über den Kopf und zog sich nackt aus. Dann stieg er unter die Dusche und wusch sich mit der Desinfektionsseife sorgfältig den Körper ab. Ein Warmluftgebläse trocknete rasch die nasse Haut, und er konnte in den überheizten Untersuchungsraum gehen. Ohne die Bitte des in einen orangefarbenen Kittel gekleideten Arztes abzuwarten, legte er sich sogleich nackt wie er war auf eine der mit einem frischen Einweg-Laken überzogenen Pritschen, die alle schon sehr abgewetzt und oft benutzt aussahen. Wie immer machte der Raum, von dem es für jeden Wartesaal mehrere gab, einen ruhigen, aber auch einen kalten und unpersönlichen Eindruck auf ihn.
Widerstandslos ließ er sich von einem Assistenten die Spritze mit dem nur kurz wirkenden Narkotikum in den rechten Unterarm injizieren. Das war nötig, um ihn in den für den Diagnosecomputer notwendigen traumlosen Tiefschlaf zu versetzen. Er sah noch wie durch ein Aquarium, daß ihm die Haftelektroden für die Compulyse angesetzt wurden. Dann schlief Norman ein.
Als er wieder aufwachte, waren nur wenige Minuten vergangen. Der Arzt-Assistent half ihm auf und zeigte auf die Tür mit den Bekleidungsräumen. Norman ging barfuß über den beheizten Plastboden zu der Tür, die bei seiner Annäherung automatisch zur Seite glitt, und suchte sich in der großen Bekleidungskammer die ihm passende Kleidung aus. Er entschied sich schließlich für einen blauschwarzen, mit farbigen Ornamenten versehenen Kimono.
In einem langsamen Vorort-Zug fuhr er dann über das weite, flache Land an der Weser entlang nordwärts. Viel konnte er draußen nicht erkennen; morgen würde er mehr sehen. In einem kleinen Dorf, dessen Namen er nicht einmal wußte, stieg er schließlich aus und wanderte langsam und andächtig durch die schummrig erleuchteten Gassen. Aus den Kneipen und Wirtshäusern drangen gelegentlich Lärm und Gelächter zu ihm heraus. Er lächelte, ging aber weiter. Heute war er dazu zu müde, morgen
Weitere Kostenlose Bücher