Microsoft Word - Eschbach, Andreas - Der letzte seiner Art.doc
Zumutbar, oder? Ich stand auf und holte mein Mobiltelefon aus dem Versteck im Flur. Den Zettel mit den Telefonnummern zu holen war ein bisschen
aufwendiger, ich hatte ihn seinerzeit klein zusammengefaltet in eine natürliche Ritze an der Unterseite eines Tischbeins geschoben. Und da war er noch.
Nach kurzem Nachdenken legte ich das Mobiltelefon
beiseite und griff stattdessen nach dem offiziell auf mich zugelassenen Apparat. Dann blieben nur noch ein paar Ziffern zu wählen, und gleich darauf vernahm ich eine Stimme, die sich kein bisschen verändert hatte.
»Whitewater.«
»Fitzgerald«, sagte ich, was ihn dazu veranlasste, hörbar überrascht einzuatmen Es gab ein großes Hallo und Trara, dem ich entnahm, dass die anderen einander längst regelmäßig an Weihnachten und Thanksgiving anriefen und zu den
Geburtstagen auch und dass Wetten liefen, wann ich endlich von mir hören lassen würde.
»Glaubst du denn, dein Telefon wird nicht mehr
überwacht?«, fragte ich verwundert.
»Klar wird es überwacht«, grinste Gabriel, »manchmal höre ich sogar, wie sich die Geräte ein- und ausschalten.«
Das war der Grund, warum ich mich nicht über das
Mobiltelefon gemeldet hatte. Dass mein Telefon abhörsicher 66
ist, nutzt nichts, wenn der Apparat auf der anderen Seite angezapft wird. Außerdem hätte ich ihnen dadurch die mühsam geheim gehaltene Nummer meines Mobiltelefons frei Haus
geliefert.
Ich zögerte »Ich müsste dringend mit dir reden, ohne dass jemand zuhört. Siehst du da eine Möglichkeit?«
Ich war mir nicht sicher gewesen, ob Gabriel darauf
eingehen würde. Und ich hatte mindestens damit gerechnet, auf den nächsten Tag vertröstet zu werden. Doch zu meiner
Verblüffung sagte er stattdessen sofort »Klar, kein Problem.«
Etwas raschelte, ich hörte ihn murmeln, und gleich darauf sagte er »Also, pass auf: Dieselbe Nummer wie meine, nur die
hinteren vier Ziffern anders. Ich überlege grade, wie ich die durchgebe. Ah, ja. Erinnerst du dich noch an unseren letzten freien Abend, ehe wir ins Hospital verlegt wurden? Als wir mit diesen beiden Cheerleadern mit den dicken Titten aus waren?
Meine hieß Kathy, und deine .«
Bis ich Gabriel Whitewater kennen lernte, war ich wie wohl die meisten der Auffassung, jemand mit indianischem Blut in den Adern müsse automatisch ein enormes, für den weißen
Mann praktisch nicht nachvollziehbares Maß an
Naturverbundenheit aufweisen. Doch nichts liegt Gabriel
Whitewater ferner. Er liebt alles, was künstlich ist. Künstlich ist besser als natürlich, das ist sein Credo. Er geht ins Kino, weil es »bunter als das wirkliche Leben« ist. Er schwimmt jederzeit lieber in einem ordentlich gechlorten Schwimmbad als in Meerwasser oder Bergseen. Er schluckt täglich und mit Hingabe synthetische Vitamine und isst diese Joghurts, die laut Aufdruck garantiert frei von natürlichen Bestandteilen sind Und er steht absolut auf künstlich vergrößerte Brüste. Eine Frau muss nur genug Silikon vor sich herschleppen, um
bleibenden Eindruck auf Gabriel Whitewater zu machen.
67
»Susan«, fiel es mir wieder ein.
»Genau Und jetzt nicht antworten, nur ja oder nein. Erinnerst du dich an die Nummer auf ihrem T-Shirt?«
Es war die 21 gewesen. »Klar«, sagte ich.
»Wunderbar. Zu dieser Zahl zählst du siebzehn dazu, dann hast du die letzten beiden Stellen. Zieh davon noch mal vier ab und vertausch die Ziffern, dann hast du die davor. Und gib mir eine halbe Stunde Zeit, okay?«
»Alles klar«, murmelte ich verblüfft. Aber da hatte er schon aufgelegt.
Das erste Mal begegnet sind wir uns im Bus raus nach Parris Island. Er stieg ein und begegnete meinem Blick und sah, dass ich, genau wie er, eine schwarze Krawatte und schwarzen Flor um den Ärmel trug, und setzte sich auf den freien Platz neben mir.
»Tut mir Leid«, sagte er, streckte mir die Hand hin und
nannte seinen Namen. »Familie, nehme ich an?«
»Mein Vater«, nickte ich. Auch nach über tausend Meilen
hatte ich noch den Geruch der Bostoner Friedhofserde in der Nase. »Und bei dir?«
Sein Blick kündete von Leid wie von Unbeugsamkeit.
»Meine ganze Familie Vater, Mutter, meine drei Schwestern.«
Später hat uns ein gemeinsames Schicksal verbunden, aber am Anfang war es das, dass wir am selben Tag unsere Familien verloren hatten.
Sein Vater ist Schönheitschirurg gewesen, was
möglicherweise Gabriels Begeisterung für alles Künstliche erklärt. Auf jeden Fall muss es in der Familie liegen, denn es gab noch
Weitere Kostenlose Bücher