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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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die Kirche hat bewahrt zweitausend Jahr, ist Hokipoki?« Und dann rief sie die Panagia an, sagte jeden einzelnen ihrer Namen auf. »All- Heilige, gesegnetste und gerühmteste Frau, Mutter Gottes und Ewige Jungfrau, hörst du, was mein Sohn Milton da sagt?« Als mein Vater stur blieb, griff Desdemona zu ihrer Geheimwaffe. Sie begann, sich zu fächeln.
    Es ist schwer, jemandem, der es nicht persönlich erlebt hat, das ominöse, sturmdräuende Fächeln meiner Großmutter zu beschreiben. Nicht gewillt, weiter mit meinem Vater zu streiten, ging sie auf geschwollenen Knöcheln in den Wintergarten. Sie setzte sich in einen Korbsessel am Fenster. Das Winterlicht, das von der Seite kam, rötete ihren abgewandten, durchscheinendenNasenflügel. Sie nahm ihren Pappfächer. Vorn auf dem Fächer prangten die Worte »Türkische Gräuel«. Darunter standen, in kleinerer Schrift, die Einzelheiten: das Pogrom in Instanbul 1955, in dessen Verlauf 15 Griechen getötet, 200 griechische Frauen vergewaltigt, 4348 Geschäfte geplündert, 59 orthodoxe Kirchen zerstört und sogar die Gräber der Patriarchen geschändet wurden. Desdemona hatte sechs Gräuelfächer. Sie waren ein Sammlersatz. Jedes Jahr schickte sie eine Spende an das Patriarchat von Konstantinopel, und einige Wochen danach traf ein weiterer Fächer ein, der an einen Völkermord erinnerte und, in einem Fall, auch eine Fotografie des Patriarchen Athenagoras zeigte, in den Ruinen einer geplünderten Kathedrale. Auf Desdemonas Fächer jenes Tages nicht zu sehen, aber gleichwohl gebrandmarkt war das jüngste Verbrechen, das nicht die Türken begangen hatten, sondern ihr eigener griechischer Sohn, der sich weigerte, seiner Tochter eine ordentliche orthodoxe Taufe zuteil werden zu lassen. Wenn Desdemona fächelte, war das nicht einfach ein Hinundherbewegen des Handgelenks; die Bewegung kam ganz tief aus ihrem Inneren. Sie hatte ihren Ursprung an der Stelle zwischen Magen und Leber, wo, wie sie mir einmal sagte, der Heilige Geist wohnte, einem Ort, der tiefer war als ihr eigenes vergrabenes Vergehen. Milton versuchte, hinter seiner Zeitung Schutz zu suchen, doch die vom Fächer aufgewühlte Luft brachte das Papier zum Rascheln. Die Kraft von Desdemonas Fächeln war im ganzen Haus zu spüren; sie wirbelte Wollmäuse von der Treppe, sie ließ die Jalousien erbeben, und da es Winter war, natürlich auch jeden frösteln. Nach einer Weile schien das gesamte Haus zu hyperventilieren. Das Fächeln verfolgte Milton sogar bis hinaus zu seinem Oldsmobile, dessen Kühler ein feines Zischen von sich gab.
    Zusätzlich zu ihrem Gefächel appellierte meine Großmutter an den Familiensinn. Father Mike, ihr Schwiegersohn und mein Onkel, war inzwischen aus Griechenland zurückgekehrt und diente - in einer Assistenzfunktion - in der griechisch orthodoxen Himmelfahrtskirche.
    »Bitte, Miltie«, sagte Desdemona. »Denk an Father Mike. Die ihm sonst nie geben Spitzenjob in Kirche. Glaubst du, seine eigene Nichte, wenn die nicht wird getauft, das sieht dann gut aus? Denk an deine Schwester, Miltie. Die arme Zoe! Die haben nicht viel Geld.«
    Schließlich fragte mein Vater meine Großmutter zum Zeichen des Einlenkens: »Was verlangen sie denn heute so fürs Taufen?«
    »Ist gratis.«
    Milton hob die Augenbrauen. Aber nach kurzem Überlegen nickte er, in seinem Argwohn bestätigt. »Na klar. Rein lassen sie einen gratis. Und dann muss man sein Leben lang bezahlen.«
    1960 bekam die griechisch-orthodoxe Gemeinde der East Side Detroits für den Gottesdienst wieder ein neues Gebäude. Die Himmelfahrtskirche war vom Vernor Highway auf ein Grundstück in der Charlevoix Avenue gezogen. Der Bau der Kirche in der Charlevoix war ein an Aufregungen reiches Ereignis gewesen. Nach den bescheidenen Anfängen als Ladenkirche in der Hart Street und dem beachtlichen, aber keineswegs spektakulären Domizil bei der Beniteau Street erhielt die Himmelfahrtsgemeinde nun endlich einen großen Kirchenbau. Viele Bauunternehmen bewarben sich um den Auftrag, aber am Ende wurde beschlossen, ihn »jemandem aus der Gemeinde« zu geben, und dieser Jemand war Bart Skiotis.
    Die Beweggründe, eine neue Kirche zu errichten, waren zweierlei: die alte Pracht von Byzanz wieder aufleben zu lassen und der Welt die finanziellen Mittel der prosperierenden griechischamerikanischen Gemeinde zu demonstrieren. Da wurden keine Kosten gescheut. Für das Bildprogramm wurde eigens ein Ikonenmaler aus Kreta eingeflogen. Er blieb über ein Jahr, schlief in

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