Middlesex
Sterblichkeit, daran dachte Milton, wenn er seinen Vater im Schein der Schreibtischlampe sah, versunken, eine feuchte Unterlippe vorschiebend, eine tote Sprache studierend.
Trotz der Kalter-Kriegs-Geheimnistuerei drangen doch Infor mationsbröckchen zu uns Kindern durch. Die wachsende Bedrohung unserer Finanzen deutete sich als gezackte, einem Blitzschlag ähnliche Furche an, die über dem Nasenrücken meiner Mutter zuckte, wenn ich in einem Spielzeugladen etwas Teures haben wollte. Fleisch kam immer seltener auf den Tisch. Milton rationierte den Strom. Wenn Pleitegeier ein Licht länger als eine Minute brennen ließ, fand er sich plötzlich in völliger Dunkelheit wieder. Und in der Dunkelheit eine Stimme: »Was habe ich dir über Kilowatt gesagt!« Eine Zeit lang lebten wir mit einer einzigen Glühbirne, mit der Milton von Zimmer zu Zimmer ging. »Auf diese Weise kann ich im Auge behalten, wie viel Strom wir verbrauchen«, sagte er, während er die Birne in die Fassung im Esszimmer schraubte, damit wir uns zum Abendessen hinsetzen konnten. »Ich kann meinen Teller gar nicht sehen«, beschwerte sich Tessie. »Was soll das?«, sagte Milton. »Das nennt man Ambiente.« Nach dem Dessert zog Milton ein Taschentuch aus der Gesäßtasche, schraubte die heiße Birne heraus und beförderte sie ins Wohnzimmer, wobei er sie hochwarf wie ein anspruchsloser Jongleur. Wir warteten im Dunkeln, während er durchs Haus stolperte, gegen Möbel stieß. Schließlich lichtete sich in der Ferne die Düsternis etwas, und Milton rief fröhlich: »Fertig!«
Er wahrte tapfer die Fassade. Er spritzte den Gehweg vor dem Diner und hielt die Fenster schlierenfrei. Er begrüßte die Gäste weiterhin mit einem herzlichen »Wie geht's, wie steht's?« oder einem »Jassou, patriotú«. Doch die Swingmusik und die altehrwürdigen Baseballspieler konnten die Zeit nicht aufhalten. Es war nicht mehr 1940, sondern 1967. Um genau zu sein, die Nacht vom Sonntag, dem 23. Juli 1967. Und unterm Kopfkissen meines Vaters war etwas Klumpiges.
Das Schlafzimmer meiner Eltern: Ausschließlich mit frühamerikanischen Stilmöbeln eingerichtet, verbindet es sie (zu Discountpreisen) mit den Gründungsmythen ihres Landes. Man beachte beispielsweise das furnierte Kopfteil des Betts, aus »reinem Kirschholz« gefertigt, wie Milton immer gern sagt, genau wie das Bäumchen, das George Washington einst fällte. Lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit auf die Tapete mit dem Befreiungskriegmotiv. Ein sich wiederholendes Muster zeigt das berühmte Trio aus jungem Trommler, Pfeifer und lahmem Alten. Meine frühesten Jahre auf Erden hindurch sind diese blutbefleckten Gestalten um das Schlafzimmer meiner Eltern marschiert, hier hinter einer »Monticello«-Kommode verschwunden, dort hinter einem »Mount Vernon«- Spiegel wieder aufgetaucht, wobei es für sie manchmal auch gar nicht mehr weiterging oder sie von einem Schrank entzweigeschnitten wurden.
Dreiundvierzig Jahre sind sie nun alt in dieser historischen Nacht, meine Eltern, und sie schlafen tief. Miltons Schnarchen lässt das Bett beben, ebenso die Wand zu meinem Zimmer, wo ich schlafe, auch ich in einem Erwachsenenbett. Und noch etwas anderes bebt unter Miltons Kissen, etwas potenziell Gefährliches, wenn man bedenkt, was dieser Gegenstand ist. Unter dem Kissen meines Vaters befindet sich die 45er Automatik, die er aus dem Krieg mitgebracht hat.
Tschechows erste Regel fürs Stückeschreiben lautet ungefähr so: »Hängt im ersten Akt, erste Szene, an der Wand eine Waffe, muss sie im dritten Akt, zweite Szene, abgefeuert werden.« Wenn ich an die Waffe unter dem Kissen meines Vaters denke, fällt mir unweigerlich dieses Erzählprinzip ein. Da ist sie also. Einmal erwähnt, kann ich sie nicht mehr wegnehmen. (Sie war in jener Nacht tatsächlich da.) Und in der Waffe sind Kugeln, und sie ist entsichert...
In dem drückenden Sommer 1967 macht sich Detroit auf Rassenkrawalle gefasst. Zwei Sommer zuvor war Watts explodiert. Unlängst hatte es Krawalle in Newark gegeben. Als Antwort auf den Aufruhr im ganzen Land hat die durchweg weiße Detroiter Polizei in den Nachtbars der Schwarzenviertel Razzien durchgeführt. Präventivschläge gegen mögliche Unruheherde auszuführen, das ist der Plan. Meistens parken die Polizisten ihre Einsatzwagen in Seitenstraßen und treiben die Gäste in die Fahrzeuge, ohne dass es jemand sieht. Diese Nacht jedoch treffen aus Gründen, die nie geklärt werden, drei Polizeifahrzeuge bei der Economy
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