Middlesex
wird traurig sein. Diese einst geteilte Stadt erinnert mich an mich. An meinen Kampf um Vereinigung, um Einheit. Ich, der ich aus einer Stadt stamme, die von Rassenhass noch immer entzweigeschnitten ist, habe hier in Berlin Hoffnung.
Ein Wort zu meiner Scham. Ich sehe nicht über sie hinweg. Ich versuche sie, so gut ich kann, zu überwinden. Die Intersex- Bewegung hat zum Ziel, der Umwandlungschirurgie der kindlichen Genitale ein Ende zu setzen. Der erste Schritt in diesem Kampf ist, die Welt - vor allem Kinderendokrinologen zu überzeugen, dass hermaphroditische Genitalien nicht krankhaft sind. Eins von zweitausend Kindern kommt mit unbestimmten Genitalien zur Welt. In den Vereinigten Staaten mit ihren 275 Millionen Menschen wären das einhundertsieben unddreißigtausend heute lebende Intersexuelle.
Aber wir Hermaphroditen sind Menschen wie alle anderen auch. Und ich bin nun mal kein politischer Mensch. Ich mag keine Vereine. Obwohl ich Mitglied der Intersex Society of North America bin, habe ich nie an ihren Demonstrationen teilgenommen. Ich lebe mein eigenes Leben und pflege meine eigenen Wunden. Das ist nicht die beste Art zu leben. Aber es ist meine Art.
Der berühmteste Hermaphrodit der Geschichte? Ich? Es hat gut getan, das hinzuschreiben, doch bis dahin ist es noch ein langer Weg. Bei der Arbeit weiß keiner davon, ich offenbare mich nur ein paar Freunden. Bei Cocktailempfängen, wenn ich zufällig neben dem früheren Botschafter stehe (auch er in Detroit gebürtig), reden wir über Baseball und die Tigers. Nur wenige hier in Berlin kennen mein Geheimnis. Ich erzähle es häufiger als früher, aber ich bin nicht konsequent. An manchen Abenden erzähle ich es Leuten, die ich eben erst kennen gelernt habe. In anderen Fällen schweige ich wie ein Grab.
Das gilt insbesondere für Frauen, die mich anziehen. Lerne ich eine kennen, die ich mag und die mich auch zu mögen scheint, halte ich mich zurück. In Berlin kommt es oft vor, dass ich, wenn ich abends, von einem preiswerten Tropfen Rioja ermutigt, unterwegs bin, mein körperliches Verhängnis vergesse und mir Hoffnung gestatte. Der Maßanzug wird ausgezogen. Auch das Thomas-Pink-Hemd. Stets sind die Damen, mit denen ich mich treffe, von meiner Konstitution beeindruckt. (Unter dem Panzer meines Zweireihers ist ein weiterer aus fitnessgestählten Muskeln.) Meinen letzten Schutz jedoch, meine weiten, meine diskreten Boxershorts, die ziehe ich nicht aus. Nie. Stattdessen gehe ich, Entschuldigungen murmelnd. Ich gehe und rufe nicht mehr an. Typisch Mann eben.
Aber schon bald bin ich wieder am Werk. Ich versuche es erneut, ich pariere. Heute Morgen habe ich wieder meine Radfahrerin gesehen. Diesmal habe ich ihren Namen herausbekommen: Julie. Julie Kikuchi. In Nordkalifornien aufgewachsen, Abschluss an der Rhode Island School of Design, gegenwärtig in Berlin mit einem Stipendium vom Künstlerhaus Bethanien. Im Augenblick aber wichtiger: Freitagabend sind wir verabredet.
Es ist nur eine erste Verabredung. Es wird sich nichts daraus entwickeln. Kein Anlass, meine Eigenheiten zu erwähnen, mein jahrelanges Herumwandern im Labyrinth, den Blicken entzogen. Und auch der Liebe.
DIE SIMULTANE Befruchtung hatte in den frühen Morgen stunden des 24. März 1923 stattgefunden, in getrennten, übereinander liegenden Schlafzimmern, nach einem Abend im Theater. Mein Großvater hatte, ohne zu wissen, dass er bald gefeuert würde, vier teure Karten für Der Minotauros besorgt, ein Stück, das im Family auf dem Spielplan stand. Anfangs hatte sich Desdemona geweigert mitzukommen. Sie lehnte Theater ab, insbesondere das Variete, hatte sich dem hellenischen Thema dann aber doch nicht widersetzen können und ein neues Paar Strümpfe, ein schwarzes Kleid und einen Mantel angezogen und sich mit den anderen über den Gehweg zu dem Furcht erregenden Packard aufgemacht.
Als sich der Vorhang im Family Theater hob, erwarteten meine Verwandten, dass sie die ganze Geschichte gezeigt bekämen. Wie Minos, König von Kreta, es versäumte, Poseidon den weißen Stier zu opfern. Wie der erzürnte Poseidon Minos' Frau Pasiphae dazu brachte, sich in einen Stier zu verlieben. Wie das Kind aus dieser Verbindung, Asterios, mit einem auf dem menschlichen Körper sitzenden Stierkopf geboren wurde. Und dann Daidalos, das Labyrinth usw. Aber sobald die Rampenlichter angingen, offenbarte sich der nicht sonderlich traditionelle Gestus der Inszenierung. Denn nun stolzierten sie auf die Bühne: die
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