Middlesex
entfernt eine Hand die Ikone des heiligen Georg aus dem Blick. Ein alter Daimler fährt vor. Lefty eilt nach draußen und steigt hinten ein.
Die neuen Geschäftspartner meines Großvaters: Vorn sitzt Mabel Reese aus Kentucky, sechsundzwanzig Jahre alt, Rouge im Gesicht, die Haare verströmen vom Lockenstab am Morgen einen Brandgeruch. »In Paducah«, sagt sie zum Fahrer, »ist so ein Tauber, der hat eine Kamera. Er geht immer nur am Fluss entlang und macht Aufnahmen. Nimmt die dämlichsten Sachen auf.«
»Mach ich auch«, antwortet der Fahrer. »Aber meine bringen Geld ein.« Maurice Plantagenet, seine Kodak-Boxkamera liegt auf der Rückbank neben Lefty, lächelt Mabel zu und fährt auf die Jefferson Avenue. In Plantagenets Augen sind die Jahre vor den Arbeitsförderungsmaßnahmen der WPA seinen künst lerischen Neigungen abträglich gewesen. Auf dem Weg zur Belle Isle hält er einen Vortrag über die Geschichte der Fotografie, dass Nicephore Niepce sie erfand, Daguerre aber die Anerkennung bekam. Er erzählt von der ersten Fotografie, die je von einem Menschen gemacht wurde, einer Pariser Straßenszene mit einer so langen Belichtung, dass keiner der schnell gehenden Fußgänger darauf festgehalten war, nur eine einsame Gestalt, die sich die Schuhe putzen lässt. »Ich will auch -in die Geschichtsbücher kommen. Aber ich glaube nicht, dass das so klappen wird.«
Auf der Belle Isle steuert Plantagenet den Daimler die Central Avenue entlang. Statt weiter zu The Strand zu fahren, biegt er auf einen kleinen Feldweg ab, der bald endet. Er parkt, und alle steigen aus. Plantagenet stellt seine Kamera in einem günstigen Licht auf, während Lefty sich an dem Auto zu schaffen macht. Mit seinem Tuch poliert er die Speichen der Felgen und die Scheinwerfer; er entfernt Schmutz von den Trittbrettern, reinigt Fenster und Windschutzscheibe. Plantagenet sagt: »Der Maestro ist bereit.«
Mabel Reese zieht den Mantel aus. Darunter trägt sie nur ein Korsett und einen Hüfthalter. »Wo willst du mich haben?«
»Streck dich über der Motorhaube aus.«
»So?«
»Ja. Gut. Das Gesicht auf die Haube. Und jetzt spreiz die Beine ein kleines bisschen.«
»So?«
»Ja. Und jetzt dreh den Kopf, und sieh in die Kamera. Genau, und jetzt lächeln. Als war ich dein Freund.«
So ging es jede Woche. Plantagenet machte die Fotos. Mein Großvater besorgte die Modelle. Die Mädchen waren nicht schwer zu finden. Allabendlich kamen sie in die Schummer kneipe. Sie brauchten Geld wie alle andern auch. Plantagenet verkaufte die Fotos an einen Händler in der Stadt und gab Lefty einen Anteil von den Einnahmen. Das Thema war einfach: Frauen in Reizwäsche räkeln sich in Autos. Die spärlich bekleideten Mädchen ringelten sich auf dem Rücksitz oder entblößten auf dem vorderen die Brüste oder wechselten, weit vornübergebeugt, einen Reifen. Meistens war ein Mädchen da, manchmal waren es zwei. Plantagenet kitzelte alle Harmonien heraus, zwischen der Kurve eines Hinterns und eines Kotflügels, zwischen Korsett und Polsterungsfalten, zwischen Strapsen und Keilriemen. Es war die Idee meines Großvaters gewesen. Er hatte sich an den alten verborgenen Schatz seines Vaters erinnert, »Sermin, Mädchen vom Tempel der Lust«, und da war ihm der Gedanke gekommen, ein altes Ideal zu erneuern. Die Tage des Harems sind vorbei. Jetzt beginnt die Ära des Rücksitzes! Das Automobil war der neue Tempel der Lust. Es verwandelte den gemeinen Mann in den Sultan der Landstraße. Plantagenets Fotos empfahlen Picknicks an ausgefallenen Orten. Die Mädchen dösten auf Trittbrettern oder bückten sich, um einen Schraubenschlüssel aus dem Kofferraum zu holen. Mitten in der wirtschaftlichen Depression, als die Menschen kein Geld für Essen hatten, berappten Männer Geld für Plantagenets Auto-Erotika. Die Fotografien versahen Lefty mit einem regelmäßigen Nebeneinkommen. Er begann sogar, Geld zu sparen, was ihm später seine nächste Chance eröffnen sollte.
Hin und wieder stoße ich auf Flohmärkten oder gelegentlich einmal in einem Fotoband auf eines von Plantagenets alten Bildern, irrtümlich, wegen des Daimlers, zumeist den zwanziger Jahren zugeschrieben. In der Depression für einen Nickel verkauft, erzielen sie heute bis zu sechshundert Dollar. Plantagenets »künstlerische« Arbeit ist in Vergessenheit geraten, seine erotischen Studien von Frauen und Automobilen aber sind nach wie vor beliebt. In die Geschichtsbücher kam er in seiner Freizeit, als er glaubte,
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