Midnight Breed 02 - Gefangene des Blutes-neu-ok-10.11.11
Witwentracht. Schwindel machte ihr die Knie weich, und für
einen Moment dachte sie, sie müsste sich gleich hier übergeben. Wo immer sie
hier auch war.
Blind vor Abscheu war sie aus
dem technischen Labor des Quartiers geflüchtet, entgeistert über das, was man
ihr gezeigt hatte. Nachdem sie blindlings erst einen Flur und dann noch einen
entlanggelaufen war, hatte sie keine Ahnung mehr, wo sie sich befand. Sie
wusste nur, dass sie hier wegwollte.
Sie konnte gar nicht weit genug
wegkommen von dem, was sie eben gesehen hatte.
Sterling hatte sie gewarnt, dass
die aufgezeichneten Satellitenbilder des Ordens sehr verstörend waren. Elise
hatte geglaubt, sie wäre darauf vorbereitet. Doch ihren Sohn mit einigen
anderen Rogues beim Abschlachten eines menschlichen Wesens zu sehen, übertraf
ihre schlimmsten Erwartungen. Sie wusste, dieser Albtraum würde sie für den
Rest ihres Lebens verfolgen.
Keuchend lehnte sie mit dem
Rücken an der Wand, dann rutschte sie langsam zu Boden. Sie konnte ihre Tränen
und ihr Schluchzen nicht länger zurückhalten. Die Quelle ihrer Verzweiflung und
ihres Kummers waren Schuldgefühle: Sie warf sich bitter vor, nicht besser auf
Camden aufgepasst zu haben. Sie hatte als selbstverständlich vorausgesetzt,
dass er gutmütig war und zu gefestigt, als dass ihm etwas so Abscheuliches
widerfahren konnte.
Ihr Sohn konnte unmöglich dieses
blutrünstige Monster sein, das sie auf dem Computerbildschirm erblickt hatte.
Sein wahres Selbst musste doch noch irgendwo da drin sein, zurückholbar.
Noch immer zu retten. Noch immer
Camden - ihr glückliches, geliebtes Kind.
„Geht es dir gut?“
Elise fuhr zusammen.
Aufgeschreckt von der tiefen Männerstimme, sah sie mit verweinten Augen hoch.
Unter einer Mähne lohfarbener Haare starrten smaragdgrüne Augen auf sie herab.
Es war einer der beiden Krieger,
die am frühen Abend zum Dunklen Hafen gekommen waren, um Sterling mitzunehmen -
der kalte, beängstigende von ihnen, der sie festgehalten hatte, als sie Hilfe
holen wollte.
„Bist du verletzt?“, fragte er.
Peinlich berührt hockte sie auf dem Boden des Korridors, wo sie
beschämenderweise zusammengebrochen war, und konnte ihn nur ansehen.
Er trat näher. Sein Gesicht war
ausdruckslos, nichts war darin zu lesen. Er war nur halb angezogen - eine lose
Jeans hing ungebührlich tief an seinen hageren Hüften, und ein komplett
aufgeknöpftes weißes Hemd ließ seinen muskulösen Bauch und Brustkorb frei.
Beeindruckende Dermaglyphen bedeckten ihn von der Leiste bis zu den Schultern.
Die Dichte und Komplexität der Muster ließ keinen Zweifel daran, dass dieser
Krieger ein Stammesmitglied der ersten Generation war, was bedeutete, dass er
zu den Aggressivsten und Mächtigsten der Vampirrasse gehörte. Es gab nicht
viele Gen-Eins-Vampire. Elise, die schon seit vielen Jahrzehnten in den Dunklen
Häfen lebte, hatte noch nie zuvor einen gesehen.
„Ich bin Tegan“, sagte er und
streckte seine Hand aus, um ihr aufzuhelfen.
Dieser Kontakt erschien ihr
eindeutig zu forsch, zumal die riesigen Hände dieses Mannes erst vor wenigen Stunden
ihre Schultern und ihre Taille umspannt gehalten hatten. Die nachklingende
Hitze seiner Berührung hatte sie noch lange danach gespürt, als hätten sich die
Umrisse seiner starken Finger in ihr Fleisch gebrannt.
Sie kam aus eigener Kraft auf
die Beine und wischte sich ungeschickt die Tränen aus dem Gesicht. „Ich bin
Elise“, sagte sie und deutete ein höfliches Kopfnicken an. „Ich bin Sterlings
Schwägerin.“
„Bist du vor Kurzem Witwe
geworden?“, fragte er, den Kopf leicht zur Seite geneigt, während sein durchdringender
Blick sie Zentimeter für Zentimeter zu mustern schien.
Elise nestelte nervös an ihrer
langen, scharlachroten Schärpe herum. „Ich habe meinen Gefährten vor fünf
Jahren verloren.“
„Du bist immer noch in Trauer.“
„Ich liebe ihn noch.“
„Das tut mir leid“, sagte er
ruhig, seine Miene ausdruckslos.
„Und das mit deinem Sohn tut mir
auch leid.“
Elise sah zu Boden. Sie war noch
nicht bereit für Anteilnahme und Beileid - nicht, solange sie sich noch an die
Hoffnung klammerte, Camden könnte zurückkommen.
„Es ist nicht deine Schuld. Du
kannst nichts dafür, dass er damit angefangen hat. Und du bist auch nicht dafür
verantwortlich, dass er nicht mehr damit aufhören wird.“
„Was?“, murmelte sie, verblüfft,
dass Tegan von ihrem Schuldgefühl wusste, ihrer verborgenen Scham. Eine
Handvoll Gen-Eins-Männer
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