Midnight Breed 04 - Gebieterin der Dunkelheit-neu-ok-14.11.11
zusammenbrach. Sollte es ihr gelingen, diese ganzen Hindernisse
zu überwinden, musste sie einfach nur losrennen, bis sie die U-Bahn-Station
erreicht hatte. Klar, ein Kinderspiel.
Sie wusste,
dass es hirnverbrannt war, selbst als sie zum Fester eilte und den Riegel
umlegte. Das Fenster war ein paarmal überstrichen worden und war von den alten
Farbschichten so gut wie versiegelt, sie musste ihm einen ordentlichen Stoß
geben. Dylan hustete einige Male, laut genug, um den Krach zu übertönen, als
sie mit der Handkante gegen den Fensterrahmen schlug.
Sie wartete
eine Sekunde und lauschte, ob sich im angrenzenden Raum etwas bewegte. Als sie
nichts hörte, schob sie das Fenster auf und bekam eine Ladung feuchte Nachtluft
ins Gesicht.
Himmel.
Würde sie das wirklich tun? Es musste sein.
Sie musste
zu ihrer Mom, das war alles, was jetzt zählte. Dylan schob sich halb aus dem
Fenster, um sicherzugehen, dass sie beim Abstieg freie Bahn hatte. Die hatte
sie. Sie konnte das. Sie musste es versuchen. Sie holte ein paarmal tief Luft,
um sich für die bevorstehende Aufgabe zu wappnen, und dann zog Dylan die
Klospülung; als diese hinter ihr losrauschte, kletterte sie aus dem Fenster.
Ihr Abstieg
über die Feuerleiter war hastig und ungelenk, aber schon nach wenigen Sekunden
berührten ihre Füße den Asphalt. Sobald sie unten angekommen war, machte sie
einen Sprint in Richtung U-Bahn.
Über das
Geräusch des fließenden Wassers im Waschbecken hinter der geschlossenen
Badezimmertür hatte Rio das fast lautlose Aufgleiten des Fensters tatsächlich
gehört. Die Klospülung überdeckte das metallische Scheppern der Feuerleiter
nicht ganz, als Dylan vorsichtig hinauskletterte.
Sie
versuchte zu fliehen, genau wie er es erwartet hatte.
Er hatte
gesehen, wie es in ihrem Kopf ratterte, als er mit ihr geredet hatte; in ihre
Augen war ein Ausdruck zunehmender Verzweiflung getreten, jeden einzelnen
Moment, den sie gezwungen war, mit ihm in dieser Wohnung zu verbringen. Er
hatte gewusst, selbst bevor sie vorgegeben hatte, auf die Toilette zu müssen,
dass sie bei der ersten Gelegenheit versuchen würde zu fliehen.
Rio hätte
sie aufhalten können. Er konnte sie auch jetzt noch aufhalten, als sie die
wackelige Stahlleiter zur Straße hinunterkletterte.
Aber er war
neugierig, wohin sie flüchten wollte. Und zu wem.
Er hatte ihr
geglaubt, als sie gesagt hatte, dass sie nicht vorhatte, mit der Existenz des
Stammes an die Medien zu gehen. Wenn sich jetzt herausstellte, dass sie ihn
anlog, wusste er nicht, was er tun würde. Er wollte einfach nicht glauben, dass
er sich in ihr getäuscht hatte - und sagte sich dabei, dass es sowieso nicht
wichtig war. Denn er würde ihre Erinnerung auslöschen.
Aber er
hatte damit gezögert, nachdem sie gesagt hatte, dass sie ihre Menschenwelt
nicht für den Stamm verlassen würde. Und zwar aus einem ganz egoistischen
Grund: Er war noch nicht dazu bereit, sich selbst aus ihren Gedanken zu
löschen.
Und nun
rannte sie in die Nacht davon, fort von ihm. Mit einem Kopf voller Erinnerungen
und Wissen, das er ihr einfach nicht lassen durfte.
Rio stand
von Dylans Computer auf und ging in das kleine Badezimmer hinüber. Es war leer,
wie er vermutet hatte, das offene Fenster gähnte in die dunkle Sommernacht
hinaus.
Er kletterte
hinaus, seine Stiefel knallten für den Sekundenbruchteil, bevor er sich
abdrückte und in die Tiefe sprang, auf der Feuerleiter auf.
Er kam unten
auf dem Asphalt auf, warf den Kopf zurück und witterte, sog die Luft in seine
Lungen, bis er Dylans Duft fand.
Dann ging er
ihr nach.
22
Dylan stand
vor der Glastür des Zimmers ihrer Mutter im zehnten Stock des Krankenhauses und
versuchte, den Mut aufzubringen Inneinzugehen. Die Krebsstation war so ruhig in
der Nacht; es waren nur das gedämpfte Flüstern der Schwestern in ihrem
Schwesternzimmer und das gelegentliche Schlurfgeräusch zu hören, wenn ein
Patient in Hausschuhen einen kurzen Rundgang im Flügel machte, die Finger um
den mobilen Infusionsständer geklammert, der neben ihm herfuhr. Vor nicht so
langer Zeit war auch ihre Mom einer dieser beharrlichen, aber erschöpft
aussehenden Patienten gewesen.
Dylan dachte
voller Zorn daran, dass ihrer Mutter nun noch mehr von diesem Schmerz und Kampf
bevorstand. Das Ergebnis der Biopsie würde erst in ein paar Tagen kommen, so
sagte zumindest die Schwester am Stationstresen. Sie hofften, dass, falls das
Ergebnis positiv war, sie den Rückfall zumindest früh genug entdeckt
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