Milano Criminale: Roman (German Edition)
diesbezüglichen internationalen Vorschriften komplett widersprach und natürlich ein Riesenfehler war, weil man damit auch alle potentiellen Spuren verwischte … und trotzdem wurde genau das getan. Die Flugzeugreste wurden gesäubert.
In den nächsten Tagen traf ich Basile im Pressezentrum des Präsidiums wieder. Ich fragte ihn, was er davon hielt. Er breitete die Arme aus.
»Am Abend des Unfalls waren alle noch sehr gesprächig und wollten alles Mögliche erzählen, aber zwei Tage später halten alle schön ihren Mund.«
Das war fast prophetisch. Die Sache wurde als Unfall abgehakt. Keine Explosion in der Luft, hieß es, alles Hirngespinste. Als ich davon erfuhr, war ich gerade bei Nicolosi und konnte meine Klappe nicht halten.
»Ein solcher Mann kommt bei einem banalen Flugzeugunglück ums Leben, weil das Wetter schlecht war und der Pilot müde und deprimiert? Sollen wir das etwa durchgehen lassen?«
»Wir sind Polizisten, was bleibt uns anderes übrig?«, erwiderte Nicolosi trocken.
Ich hielt den Mund. Wir sahen uns in die Augen. In diesem Satz steckte der ganze Mann. Seine absolute Treue zum Staat. Auch wenn er fehlgeht. Auch wenn er vertuscht. Nicolosi fängt die Bösen, sonst nichts. Er urteilt nicht über sie: Dafür gibt es die Richter. Oder die Politik. Er ist Polizist. Merk dir das, Santi.
»Politik ist die Kunst, Menschen daran zu hindern, sich in Dinge einzumischen, die sie etwas angehen.«
»Ich hätte dich nicht für so tiefgründig gehalten.«
»Das ist nicht von mir, Catalano, das hat 1943 ein französischer Dichter geschrieben, Paul Valéry.«
»Dann bist du also ein Intellektueller, einer, der studiert hat.«
»Jetzt nicht mehr.«
»Warum? Was ist passiert?«
»Ich bin Bulle geworden.«
Im Beccaria
1
»Das Beste, was ich über meine Kindheit sagen kann, ist, dass sie vorbei ist.«
So lautet Vandellis Antwort auf eine Frage des Klapsdoktors, der herausfinden möchte, ob der Junge wieder einzugliedern ist.
Der kleine Raum, in dem das Gespräch stattfindet, riecht nach Schweiß und abgestandener Luft. Nur das Nötigste an Mobiliar: ein paar Stühle und ein dunkler, massiver Holztisch. Von der Decke baumelt wie an einem Galgen die nackte Birne, und das große Fenster wirft ein Karomuster ins Zimmer. Roberto flößen die Gitterstäbe längst keine Angst mehr ein, ebenso wenig wie die grünen Wände, gezeichnet durch Alter und Feuchtigkeit. Beinahe fühlt er sich wohl hier drinnen.
Während er der Antwort des Jungen lauscht, schließt der Gefängnispsychologe kurz die Augen und bearbeitet mit zwei Fingern seinen Italo-Balbo-Spitzbart. Er grübelt über Vandelli nach, der den Akten zufolge erst vor ein paar Monaten sechzehn Jahre alt geworden ist. Ein schwieriges Kind, lange unentschuldigte Fehlzeiten in der Schule, mehrfache Bewährungsstrafen.
Vandelli sieht dem Arzt direkt ins Gesicht. Er hat nichts mehr von dem Teenager, der er dem Alter nach sein müsste. Und er ist sich so klar darüber, dass er sogar leugnet, je eine Kindheit gehabt zu haben. Seit dem Streich mit den Zirkustigern acht Jahre zuvor war sein Weg vorgezeichnet.
›Und wahrscheinlich wäre es auch ohne diesen Zwischenfall nicht anders gekommen‹, denkt der Arzt. Dann fragt er endlich: »Hier steht, dass du von der Schule geflogen bist.«
»Ich hab einem Lehrer gedroht, ihm die Fresse zu polieren. Das Arschloch hat immer auf den Schwächsten rumgehackt.«
»Verstehe. Da steht auch, dass du dich häufig mit deinen Mitschülern geprügelt hast. Wieso?«
Ein leichtes Schulterzucken.
»Man kann nicht mit allen einer Meinung sein, oder?«
Der Arzt macht sich eine Notiz. Viel mehr als die Worte des Jungen beeindruckt ihn seine eiskalte Mimik: Vandelli senkt beim Reden keinen Moment den Blick, gerät kein einziges Mal ins Stocken.
Der Junge wartet nach seiner Antwort kurz, dann fragt er: »Kann ich jetzt gehen? Oder soll ich den ganzen Tag hier sitzen und Ihnen zusehen, wie Sie auf dem Papier rumkritzeln?«
Er gibt sich abgebrüht, in Wirklichkeit ist er stinksauer. Das war dem Psychologen sofort klar, als er ihn dort sitzen sah. Der Junge ärgert sich schwarz, dass er so dumm sein konnte, geschnappt zu werden.
Wie ein Grünschnabel hat er sich erwischen lassen, beim Kaufhausdiebstahl an der Piazza Frattini. Dabei hatte er alles richtig gemacht. Abgewartet, bis der Wachmann außer Sicht war, dann flink in die Elektroabteilung geflitzt. Auf ein Transistorradio hatte er es abgesehen, den Abnehmer dafür hatte er
Weitere Kostenlose Bücher