Milchbart (German Edition)
Atem zu kommen. Als sie endlich aufstand, bemerkte sie, dass die Morgendämmerung bereits angebrochen war.
Du solltest machen, dass du hier wegkommst, bevor der Hausmeister, die Putzfrauen, die Morgenschicht und Hornschuh persönlich eintrudeln!
Fanni schaltete die Stirnlampe aus, schob sie in die Hosentasche und beeilte sich, den Paravent wieder an Ort und Stelle zu rücken. Unglücklicherweise befand sie sich dabei mit dem Rücken zum Fenster, weshalb sie nicht sehen konnte, dass von dort, wo der Parkplatz für das Klinikpersonal lag, jemand gekommen und direkt unterhalb des Fensters stehen geblieben war. Jene Person hatte die Augen zusammengekniffen und suchte das noch immer erleuchtete Zimmer ab. Schließlich saugte sich ihr Blick an Fanni fest. Nach einigen Sekunden ging sie weiter, bog in den Weg ein, der zum Haupteingang führte.
Indessen hatte Fanni den Wandschirm zurechtgerückt und sich vergewissert, dass er wieder genauso dastand wie zuvor. Dann schaute sie sich ein letztes Mal im Raum um, wobei sie einen bedauernden Blick auf den Schreibtisch warf.
Den kannst du getrost unbeachtet lassen, da entgeht dir nichts! Maritas Schreibtisch ist von den Ermittlern garantiert nach allen Regeln der Kunst durchsucht worden!
»Sollte man wohl annehmen«, murmelte Fanni, während sie die paar Schritte zur Tür zurücklegte. Dort schaltete sie die Deckenlampe aus und verharrte dann eine Zeit lang mit dem Ohr an der Türfüllung.
Mucksmäuschenstill da draußen im Flur! Keine Schritte, kein Rascheln, kein Räuspern!
Fanni schlüpfte hinaus.
8
»Du wirst staunen, wie gut das schmeckt«, sagte Hans Rot.
Fanni stand in ihrer (angeblich ehemaligen) Küche und schnitt eine Zwiebel klein.
Gedächtnislücke hin oder her, es ist doch wohl deutlich zu sehen, dass du schon lange nicht mehr hier gewesen bist!
Ich habe nie eine der Informationen angezweifelt, die mir Leni hinsichtlich der vergangenen sechs Jahre gegeben hat, verteidigte sich Fanni mechanisch, bevor ihr einfiel, dass sie ihrer Gedankenstimme keine Rechenschaft schuldig war.
Hans Rot hatte neben ihrem Schneidebrett eine Edelstahlpfanne auf dem Küchentresen abgestellt, in der ein roher Fisch in einer beängstigend großen Ölpfütze schwamm, über den er soeben großzügig Pfeffer streute.
»Nimm ruhig noch eine Zwiebel«, sagte er. »Je mehr, desto besser.«
Fanni holte eine weitere Zwiebel aus dem Korb und schälte sie unter dem laufenden Wasserhahn, weil sie aus langer Erfahrung wusste, dass ihr so die Augen weniger tränen würden.
»Weißt du, wie ich draufgekommen bin, sie so zuzubereiten?«, fragte Hans Rot.
Ob es dich nun interessiert oder nicht, gleich wird er dir mitteilen, was ihn – wann auch immer – dazu gebracht hat, eine Forelle in eine Pfanne zu befördern, um sie zu braten!
»Böckl hat mir einmal eine aus seiner Zucht geschenkt«, sagte er auch schon. »Unser Nachbar, Jäger Böckl, du erinnerst dich doch an ihn.«
Fanni legte den Nachsatz als Feststellung aus und ersparte sich die Antwort.
Wie sollte sie sich denn nicht an die Böckls erinnern, die jahrzehntelang ihre Nachbarn gewesen waren. Jonas Böckl, der ungebärdige Sohn des Paares, hatte mit seinen Schandtaten in den Achtzigern schier tagtäglich für Furore in Erlenweiler gesorgt. Er war fünf Jahre jünger als Leni und hatte damals manche Ohrfeige von ihr bezogen. Später allerdings, als Jonas erwachsen wurde und seinen Übermut allmählich unter Kontrolle brachte, hatten sich die beiden gut verstanden.
»Böckl hat nämlich vor zwei Jahren die Fischweiher gepachtet, die in der Nähe des Birkdorfer Sportplatzes am Perlbach liegen«, fuhr Hans fort. »Erinnerst du dich an die terrassenförmig angelegten Fischweiher?«
»Hans«, sagte Fanni darauf heftig, »ich habe eine Gedächtnislücke, die zugegebenermaßen sechs Jahre umfasst. Aber ich leide weder unter Alzheimer, noch bin ich dement.«
Hans Rot nahm den Salzstreuer und ließ einen ergiebigen Schauer auf den Fisch prasseln. »Wie gesagt, Böckl züchtet neuerdings Forellen und hat mir vor einiger Zeit eine geschenkt. Obwohl ich, wie du dir denken kannst, nicht die geringste Ahnung hatte, was ich damit anfangen sollte, habe ich sie angenommen. Als ich zu Hause war, ist mir die Tiefkühltruhe eingefallen. Rein mit dem Ding, habe ich gedacht. Ich stand schon im Keller, da ist mir der Gedanke gekommen, dass es ja eigentlich nicht so schwer sein kann, einen Fisch zu braten. Du brauchst nur eine Pfanne, habe ich mir
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