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Milchmond (German Edition)

Milchmond (German Edition)

Titel: Milchmond (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herfried Loose
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Bravorufe auf und sie hörte das Scharren von Stühlen.
    Julias Gesicht begann sich vor Aufregung zu röten. Hatte sie vor dem Auftritt noch entsetzliches Lampenfieber gespürt, so war mit dem Anschlagen der ersten Töne völlige Ruhe über sie gekommen – ja, sie hatte das Gefühl gehabt, als ob die Finger ihrer Hände ihren Tanz auf den Tasten des Bechstein-Flügels ganz allein, ganz ohne ihr wollendes Dazutun, vollführten. Sie war sich vorgekommen wie eine unbeteiligte Beobachterin, die freudig erregt auf das Spiel ihrer Finger schaute, die Chopins Fantasy Impromptu in Cis-Moll intonierten und dem Stück zu vollem Ausdruck und Glanz verhalfen.
   Sie spürte wieder den Schubs im Rücken, der sie ermahnte, erneut zurück auf die Bühne zu laufen. Als sie dort wieder stand, hatte sich das Bild verändert. Das Publikum stand - ja, es gab ihr Standing-Ovations!
   Das erlebte sie heute zum ersten Mal. Sie spürte ihr Herz hämmern, stolpern, sich wieder fangen und noch schneller hämmern. Sie sah jetzt zu ihrem Schulleiter hinüber. Herr Jacobsen klatschte ihr mit betont erhobenen Händen respektvoll entgegen und lächelte ihr dabei vergnügt blinzelnd zu. Die übrige Lehrerschaft gab sich ebenfalls sehr angetan.
   Julia fühlte sich wie im Rausch. Knicks und... Abgang! Frau Hartwig raunte ihr ins Ohr, dass es jetzt Zeit für die Zugabe sei. »Schenke ihnen den Hummelflug und sie fallen alle in Ohnmacht, ich weiß du kannst das! Na los!« Oh, je, den Hummelflug? Sie hatte ihn oft gespielt, doch für ihre Begriffe nie gut genug. Sie hatte als Zugabe eigentlich die Preludes in Es-Dur geben wollen. Sollte sie es wirklich wagen? Der Beifall dröhnte und sie fühlte sich von einer Woge des Glücks und des Stolzes zurück an den Flügel getragen.
   Sie setzte sich und der Beifall erstarb abrupt. Julia konzentrierte sich kurz, korrigierte noch einmal ihre Sitzposition und dann sah sie nur noch die schwarz-weißen Tasten vor sich. Die Hände senkten sich mit gespreizten Fingern nach unten - die rechte Hand begann zu spielen, dann, mit dem linken, ausgestreckten Zeigefinger setzte sie die ersten Töne dazu gekonnt auf Lücke. Sie wusste, dass das immer toll aussah und war nun erfüllt von der Vorstellung, dass wild gewordene Hummeln sie umschwirrten. Sie tanzten in einem irren Tanz um sie herum, ihre Finger rasten in wildem Staccato über die Tasten – wieder wie von selbst. Immer schneller, schneller, noch schneller - so schnell war sie noch nie. Sie spielte wie im Rausch.
    Wie ein Film lief die Szene an Julia vorüber. Ihr Körper, ihre Hände, ihre Finger, jede Zelle ihres Körpers war in diesen Augenblicken Musik. Sie selbst war Musik. Kein Platz für einen störenden Gedanken. Das beharrliche Üben hatte sich gelohnt. Das Stück war ihr in Fleisch und Blut übergangen. Letzte Anschläge – und Schluss!
   Mit einem Ruck stand sie auf, wendete sich zum Publikum, senkte den Kopf. Sekundenlang hätte man eine Stecknadel fallen hören können, dann riss es die Leute erneut von den Sitzen und tosender Beifall erfüllte die Schulaula des Blankeneser Gymnasiums, das mit dieser Veranstaltung des einhundertsten Geburtstags der Schule gedachte.
   Später erfuhr sie von Frau Hartwig, dass sie eine Minute und zehn Sekunden für das Wahnsinnsstück gebraucht hatte. Das bisher Schnellste war eine Minute und siebzehn Sekunden gewesen. Julia stand und strahlte überglücklich, das Zählen vergaß sie. Sie stand nur da und genoss den frenetischen Jubel im Saal.
   Herr Jacobsen kam mit zwei Blumensträußen in der Hand auf sie zu. Als er neben ihr stand, wartete er mit ihr gemeinsam bis der Beifall verebbte. Während der letzten Klatscher winkte er Frau Hartwig mit einer einladenden Geste zu sich auf die Bühne. Er zollte Julia seinen Dank und seine Anerkennung, wusste auch die Qualitäten der Musiklehrerin ins rechte Licht zu setzen. Dann folgte eine kleine Werberede auf die Leistungen der Schule, die besonders stolz sei, da man mit dieser konzertanten Darbietung eindeutig gezeigt hätte, zu welchen Leistungen die Schüler befähigt würden. Erst seit kurzer Zeit habe man den Musikzweig des Gymnasiums durch Neuanschaffungen und Neuausrichtung des Lehrplan-Angebotes verstärkt gefördert und... Julia hörte nicht mehr zu.
   Im Anschluss an die Feier gingen sie zur Krönung des Tages in ein Hamburger Traditionsrestaurant, dem Landhaus Scherrer. Es war das Lieblingsrestaurant ihrer Eltern. Mamas

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