Milchmond (German Edition)
kann ich mir wirklich nicht vorstellen. Es ist ein schönes Hobby. Das Klavierspiel gehört zu mir, wie zu den anderen in meiner Klasse das Reiten oder Tennisspielen. Solange ich daran Freude habe, solange werde ich spielen. Ich glaube, ich werde später Jura studieren, so wie Papa.«
Ihr Vater war darüber sehr erleichtert, hatte er doch insgeheim gefürchtet, Julia würde in die beruflichen Fußstapfen ihrer Mutter treten wollen. Ihr Elternhaus in Blankenese hatte früher dem Großvater gehört. Sie hatte Opa Horst nicht mehr kennen gelernt. Er starb im Jahr ihrer Geburt an einem Hirnschlag. Er war Lotse gewesen. Oma Henny war schon drei Jahre vorher an Krebs verstorben. So kam es, dass ihre Eltern das Haus erbten und umbauten.
Blankenese war früher ein Vorort, jetzt ein Stadtteil Hamburgs, den man sich schöner nicht vorstellen konnte.
Es war hügelig. Schmale Straßen und Wege führten zu alten Kapitänshäusern, die, von Hecken geschützt, verborgen auf ihren Plätzen ruhten und auf die träge dahin fließende Elbe hinab schauten. Auf dieser Lebensader Hamburgs erklangen in regelmäßigen Abständen die Sirenen der großen Schiffe. Hier war auch die Schiffsempfangsanlage vom Willkomm Höft des Wedeler Elbufers zu hören, die jedes neu ankommende große Schiff mit der Nationalhymne seines Herkunftslandes willkommen hieß. Wenn man die Blankeneser fragte, ob das viele Sirenentuten der Schiffe sie nicht störte, kam meistens ganz erstaunt zur Antwort: »Ach, das höre ich gar nicht mehr.«
Im Sommer hatten sie als Kinder am Elbestrand gespielt. Blankenese war Julias Heimat - durch und durch. Hier war Tradition gepaart mit Weltoffenheit zu Hause. Tugenden, die an ihrem Gymnasium auch besonders gepflegt wurden.
So bot sich Julia in der elften Klasse die Möglichkeit, an einem Schüleraustauschprogramm teilzunehmen. Sie verbrachte ein halbes Schuljahr in England und wohnte dort in einem Londoner Vorort bei der Familie Hastings. Ihre Zeit dort genoss sie sehr. London bot ebenfalls sehr viel Tradition und der Besuch der dortigen Schule brachte sie in vielerlei Hinsicht weiter. Sie besuchte mit Sue-Ellen, der Tochter der Familie, gemeinsam die elfte Klasse der dortigen St Marylebone Secondary School.
Zwei Jahre später bestand Julia das Abitur. Zwar konnte sie den Notenschnitt ihres Bruders nicht überbieten, aber mit 1,5 war sie selbst sehr zufrieden und stolz auf sich. Sie bereitete ihrem Vater große Freude damit, dass sie bei ihrem Entschluss, Jura studieren zu wollen, blieb.
So nahm sie das Studium an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg auf. Sie hätte auch in Hamburg studieren können, aber ihre Eltern hielten es für eine gute Idee, das Studium in einer anderen Stadt zu absolvieren, um sich ein wenig den Wind um die Nase wehen zu lassen, wie sie es nannten. »Selbstständigkeit muss man üben und trainieren. Dir wird Freiburg sehr gut tun!«, hatte ihr Vater gemeint. Als sie ihre Sachen gepackt hatte und abreiste, fiel ihrer Mutter der Abschied besonders schwer.
Julia lebte sich in ihrer neuen Umgebung rasch ein. Die ersten Tage wohnte sie in einer Pension, fand dann aber schon nach wenigen Tagen am schwarzen Brett der Uni den Zettel einer WG, die noch eine Mitbewohnerin suchte. Das kam ihr gerade recht. Eine WG fand sie spannend, so stellte sie sich ihr Studentenleben vor - in Gemeinschaft mit anderen zu leben und zu arbeiten.
Die WG befand sich in der Nähe der Uni im zweiten Stock eines alten Mietshauses. Sie bestand aus Kirsten, Laura und Michael. Das vierte Zimmer, mit Blick in den Hof, sollte ihres werden. Es maß gute fünfundzwanzig Quadratmeter. Küche und Bad wurden gemeinsam genutzt. Für das Bad gab es morgens einen Benutzungsplan.
Ihre Mitbewohner waren nette Leute. Kirsten und Laura studierten Theologie, Michael war Jurastudent im dritten Semester. Er war es auch, der die Suchanzeige an das schwarze Brett geheftet hatte. Michael war groß und schlaksig und besaß ein sehr einfühlsames Wesen. Während der ersten Wochen an der Uni gab er Julia vielerlei Hilfestellung, damit sie sich schneller zurechtfand.
Er bewunderte sie, und so dauerte es nicht lange, bis der Funke des Interesses sich auch bei ihr entzündete. Michael wurde ihr erster Liebhaber. Ihre Freundschaft währte drei Semester, dann brach er das Studium ab, weil sich ihm die Möglichkeit bot, einen Studienplatz für Medizin in Kiel zu ergattern. Er hatte die Juristerei
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