Milchmond (German Edition)
schaffen, hatte sie doch das dringende Bedürfnis, über ihre Sorgen und Probleme mit ihm zu sprechen. Wann immer sie es versuchte, wich er ihr aus mit Worten, wie: »Komm Julia, verdirb uns nicht die Stimmung. Alles Reden ändert ja doch nichts. Es ist, wie es ist!«
Manchmal hätte sie schreien können, weil sie glaubte, ihr innerer Druck würde ins Unermessliche anwachsen. Warum konnten Männer einfach nicht über Gefühle sprechen? Für sie blieb das ein ewig ungelöstes Rätsel. Im selben Maße, wie es Jörgs Stimmung zu Gute kam, dass sie diesen Ortswechsel vorgenommen hatten, wuchs ihre Unzufriedenheit mit sich selbst. Hatte Tobias am Ende doch recht, dass man Liebe nicht mit Mitleid verwechseln sollte?
»Gehen wir?« Jörg griff, ohne eine Antwort abzuwarten, mit einem Ruck in die Räder des Rollstuhls und schwenkte diesen zur Seite. Julia wären durch diese nicht vorhersehbare Reaktion fast die Griffe entglitten. Sie nickte wortlos und schob ihren Mann in Richtung Fahrradweg. Als sie diesen erreichten, rumpelte das Gefährt den unebenen Weg von der Deichkrone hinab in Richtung ihres abgestellten Wagens. Sie nahm sich vor, am nächsten Tag bei einem Strandspaziergang ohne Jörg, gründlich über ihre Lage nachzudenken.
Die Tage auf Föhr taten Jörg gut. Sein Gesicht bekam wieder mehr Farbe und seine Augen mehr Glanz. Schade, dass das Haus nicht länger für sie frei war. Sie wären gern noch geblieben, jedoch war ihr Domizil nur für zwei Wochen ungebucht, und nun sollten am Samstag neue Gäste einziehen.
Julia bereitete der Gedanke an die bevorstehende Rückkehr in das Haus in Harvestehude seelische Schmerzen. Ihr Mann hatte so getan, als hätte es den von ihr eingeleiteten Bruch in ihrer Beziehung nie gegeben. Zwar hatte er sich bisher jedes sexuellen Übergriffs enthalten, ließ jedoch keine Gelegenheit aus, sie zu umfassen, an den Händen zu halten oder ein wenig mit ihr zu schmusen. Bereitwillig gab sie ihm das Maß an Nähe, was sie zu geben imstande war. Die Situation war für sie nicht gut zu ertragen. Wie sie es auch drehte und wendete, ihr war nicht wohl, und irgendetwas an der ganzen Situation schien falsch.
Wenige Tage vor ihrer Abreise, als Julia von einem ihrer Alleinspaziergänge vom Strand ins Haus zurück kehrte, hörte sie Jörg im Wohnzimmer telefonieren. Als er ihre Rückkehr bemerkte, hatte sie das seltsame Gefühl, als würde er das Gespräch abwürgen - sie bekam nur noch seine letzten Worte mit: »Ich komme dann nächste Woche noch einmal zur Untersuchung in die Klinik. Ja, ja, Sie können sich darauf verlassen, Frau Doktor. Ich werde pünktlich sein. Auf Wiederhören!«
Sie nahm sich im Flur die Mütze vom Kopf und lockerte ihre Frisur mit beiden Händen. »Mit wem hast du telefoniert?« Einen flüchtigen Augenblick lang schien er ihrem fragenden Blick nicht standhalten zu können; er fuhr sich mit der Hand über die Augen, dann erst antwortete er: »Die Ärztin aus dem Krankenhaus hat sich nach meinem Befinden erkundigt, und sie will, dass ich demnächst noch einmal vorstellig werde. Es hätte sich ein neuer Aspekt ergeben. Was für ein Aspekt das wäre?, habe ich sie gefragt. Dazu wollte sie aber noch nichts sagen, bevor nicht in der Klinik noch zwei Kontroll-Untersuchungen stattgefunden haben.«
»Na, die macht es aber spannend! Wann hast du den Termin?«
»Am kommenden Dienstagvormittag!«
Jörg war mit dem Rollstuhl aus dem Zimmer in Richtung Gäste-WC gerollt. Sein Handy lag auf dem Wohnzimmertisch. Schnell warf sie einen prüfenden Blick zum nun leeren Rollstuhl und konnte der Versuchung nicht widerstehen, sich aus dem Handymenü die Nummer des letzten Anrufes anzeigen zu lassen. Zu ihrem Erstaunen handelte es sich um eine Mobilfunknummer. Sie hatte eigentlich mit einer Durchwahlnummer der Uniklinik gerechnet. Schnell griff sie zu Zettel und Stift und notierte sich die Nummer, um demnächst mit der Ärztin ein Gespräch zu vereinbaren - zunächst ohne ihren Mann.
Sie wusste selbst nicht, welcher plötzlichen Eingebung sie soeben gefolgt war. Noch niemals hatte sie in seinem Handy herumspioniert und kam sich deswegen ein wenig schlecht dabei vor. Aber in diesem Fall heiligte der Zweck die Mittel, beruhigte sie ihr aufbegehrendes Gewissen. Sie würde die Ärztin nach ihrer Rückkehr anrufen und um einen Gesprächstermin bitten.
Am letzten Tag vor ihrer Abreise fuhren sie noch einmal zum Abschied nach Wyk. Das Wetter
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