Milchmond (German Edition)
unterbrechen, trat Stille ein. Nur das Ticken der alten Standuhr war überdeutlich zu hören. Julia musste sich bei ihrer Schilderung wiederholt die Tränen aus den Augen wischen und sich die Nase putzen. Es tat gut, einmal alles aus sich herauslassen zu können, was sie quälte.
Ihr Kaffee war mittlerweile kalt. Als sie die Tasse zurück stellte, sah sie auf und blickte in Johannes bestürztes Gesicht. Eine senkrechte, steile Falte bildete sich auf seiner Stirn, sie verlieh seinen Zügen etwas Raubvogelhaftes. Seine Pupillen hatten nur noch die Größe von Stecknadelköpfen. Unter seinem entsetzten Blick wurde sie unsicher, und schlagartig überkam sie das Gefühl, dass es ein Fehler war, ihrem Bruder davon zu erzählen. Oh, sie hätte es wissen müssen, dass sie für ihr Tun kein Verständnis erwarten konnte!
Nun brach der aufgestaute Strom, der bis jetzt nur hier und da hervorgequollenen Tränen aus ihr heraus und entlud sich unter einem Aufschütteln ihres ganzen Körpers. Sie brach weinend zusammen.
Unter der Wucht des heftigen Weinkrampfes entrang sich ihrer Brust ein klagendes, verzweifeltes Schluchzen. »Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll, Johannes! Ich bin so verzweifelt! Ich weiß einfach nicht mehr weiter!« Zusammengekrümmt saß sie auf ihrem Stuhl, die Hände zu Fäusten geballt..
Johannes löste sich aus seiner Erstarrung und stand auf, stellte sich hinter sie und legte seine Hand beruhigend auf ihre Schulter. Seine Wärme strahlte durch den Stoff ihrer Bluse. Seltsam, noch hatte er kein Wort gesagt, aber diese warme, schwere Hand da, auf ihrer Schulter, schien sie mit Kraft und Energie aufzuladen. Sie beruhigte sich, fasste sich wieder etwas und legte ihre linke Hand auf die immer noch auf ihrer Schulter ruhende Hand ihres Bruders. So verharrten sie eine Weile, bis Julia endlich erleichtert seine mitfühlenden Worte vernahm:
»Ach, Julia, es tut mir so unendlich Leid um euch. Manchmal ist es schwer zu erkennen, welches der richtige Weg ist.«
Es verlieh ihr neue Kraft, dass sie sich in ihrem Bruder geirrt hatte, er sie nicht verurteilte, sondern einfach nur Anteil nahm. Er sagte zunächst nichts weiter, aber seine wortlose Nähe und die Wärme seiner Berührung waren Balsam für ihre blank liegenden Nerven.
Sie aßen später gemeinsam zu Mittag. Der Kleine machte sich über das verspätete Geburtstagsgeschenk her und spielte mit dem batteriebetriebenen Fernlenkauto, das er gerade von seiner Tante bekommen hatte.
Anna-Lena kam mit ihren zwölf Jahren nun ins Teenageralter und verlor langsam ihre kindlichen Züge. Wie schnell die Zeit vergeht!, dachte Julia bei sich und übergab ihr, obwohl sie keinen Geburtstag hatte, als kleines Mitbringsel eine Telefonkarte für ihr Handy.
So verbrachte Julia noch den frühen Nachmittag plauschenderweise mit Johannes, Karen und den Kindern. Dann kam der Anruf von Jörg, der fragte, ob sie ihn wieder aus der Klinik abholen könne - er sei fertig und warte auf sie.
Auf der Rückfahrt dachte Julia über die Worte ihres Bruders nach, der ihr statt eines Rates zum Abschied eine Frage mit auf den Weg gegeben hatte, die ging ihr nun nicht mehr aus dem Sinn:
Ist dein Tun wirklich ein Weg wahrer Liebe oder ein Weg der Selbstsabotage?
Darüber hinaus hatte ihr kluger Bruder auch noch nachgefragt, ob sie selbst mit der behandelnden Ärztin gesprochen hatte und war erstaunt, als sie dies verneinte. »Du solltest mit Jörg zusammen zur Ärztin gehen und mit ihr sprechen. Vier Ohren hören mehr als zwei! Ich habe zu häufig die Erfahrung machen müssen, dass Menschen nur die Worte hören, die sie hören wollen. Dann hört jedenfalls der Zweite auch die anderen Aspekte, die möglicherweise angesprochen werden.«
Ja, sie würde die Ärztin um ein Gespräch bitten, wie hieß sie doch noch gleich...? Jetzt war sie froh, sich die Nummer von Jörgs Handy notiert zu haben. Sie würde ihn nach ihrem Namen fragen und dann zunächst mit ihr allein sprechen und sich Auskunft geben lassen, schließlich war sie seine Ehefrau und konnte Auskunft verlangen.
Als sie auf dem Klinikgelände eintraf, wartete Jörg bereits an der Auffahrt. Sie half ihm beim Einsteigen. Als sie wieder Platz genommen hatte, sah sie ihn von der Seite her forschend an.
»Nun? Gibt es Neuigkeiten?«
»Ja, das kann man wohl sagen!« Überraschend kräftig, fast gutgelaunt, waren ihm die Worte spontan über die Lippen gekommen und Julia
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