Miles Flint 01 - Die Verschollenen
und stopfte sie in ihren Hosenbund. Dann schnappte sie sich zwei weitere Flaschen und hastete zur offenen Tür.
Dort hielt sie inne.
Draußen war das Licht hell, reflektiert von einem anderen Stück Permaplastik, das aussah wie ein Teil des Dachs. Blinzelnd machte sie kehrt. Die Leute würden alles sehen können, jeden blauen Fleck, jeden Schmutz. Sie holte sich noch eine Flasche Wasser und benutzte sie, um Gesicht und Hände zu waschen, und sie schrubbte, so hart sie konnte, um möglichst vorzeigbar zu werden.
Wegen ihrer Kleider konnte sie nichts tun, aber sie konnte ihre Optik aufpolieren. Das hatte sie stets ihren Klienten einzubläuen versucht, aber einige hatten es nie gelernt. Mehr als nur ein paar von ihnen hatte sie Kleidung gekauft, um ihnen einen ordentlichen Auftritt vor Gericht zu verschaffen …
… und einer dieser Klienten lebte in Armstrong. Oder hatte hier gelebt, als Ekaterina ihn verteidigt hatte. Das war der Grund, warum sie überhaupt über ihre alten Klienten nachgedacht hatte: weil ihr Unterbewusstsein eine Reise in die Vergangenheit angetreten hatte, zurück zu einem der Namen, die sie brauchen konnte.
Shamus Shank. Ekaterina wunderte sich, dass sie einen Namen wie diesen hatte vergessen können, und sei es auch nur für eine kurze Zeit. Sie hatte ihn damals mit dem Namen aufgezogen, schon weil sie nicht überzeugt gewesen war – oder jetzt überzeugt wäre – dass das sein echter Name war.
Ekaterina schüttelte den Kopf. Shamus Shank war die perfekte Person, um ihr zu helfen. Er hatte sich auf ›saubere‹ Verbrechen spezialisiert, hackte sich in fremde Systeme und stahl Geld oder veränderte Sicherheitsprotokolle, sodass er schnell verschwinden konnte.
Er war ein halbes Dutzend Male geschnappt worden, aber jedes Mal war er wieder freigekommen. Und jedes Mal hatte er über die Polizei gelacht und gesagt, dass sie keine Ahnung hatten, wie viel Geld er gestohlen und mit wie vielen ihrer Akten er herumgespielt hatte.
Shamus Shank. Ekaterina hatte ihn einmal hier besucht, vor beinahe einem Jahrzehnt. Er hatte ein Gebäude besessen, dass er zu nutzen pflegte, wenn er in Armstrong war, und das er als permanente Heimatadresse angegeben hatte.
Und wenn sie Shamus Shank nicht finden konnte, war sie vielleicht imstande, Leute zu finden, die zugunsten seines Charakters ausgesagt hatten. Sie alle hatten ähnlich außergewöhnliche Namen, und sie pflegten sich in der Brownie Bar zu treffen, einem Ort, dessen Existenz sie bezweifelt hatte, bis Shamus sie einmal dorthin mitgenommen hatte.
Die Brownie Bar und Shamus Shank.
Endlich hatte Ekaterina ein Ziel – und einen Hauch von Hoffnung.
»Ich möchte den Jungen sehen«, sagte Reese, der Stadtsyndikus.
DeRicci fuhr sich mit der Hand durchs Haar und fragte sich, wie lange es her war, dass sie geschlafen hatte. Ihr Körper bebte vor Erschöpfung. Sie hatte die ganze Nacht durchgearbeitet, und inzwischen sah es ganz so aus, als würde sie auch den ganzen Tag arbeiten müssen.
Sie und Reese standen vor einem Konferenzraum im Büro des Stadtsyndikus’. Der breite Korridor, auf dem sie sich befanden, verzweigte sich zu mehreren anderen Gängen. Ein künstlicher Baum stand an einer Wand und sah irgendwie deplatziert aus. In der Nähe hielt sich eine Mitarbeiterin bereit, als warte sie darauf, dass irgendjemand ihr sagte, was sie zu tun hatte.
Reese und DeRicci warteten auf das Ende der Besprechung. Nachdem sich Reese eine Weile mit Jasper Wilders Eltern unterhalten hatte, hatte er einen Kollegen hinzugebeten: Damien Carryth, einen Spezialisten für Verschwundene, der nun allein mit den Wilders war.
»Glauben Sie mir, Sir«, sagte sie zu Reese. »Sie wollen ihn nicht sehen.«
Reese bedachte sie mit einem kühlen Blick. »Ich will. Ich will wissen, wofür wir kämpfen.«
Wir kämpfen dafür, menschliche Kinder menschlich zu lassen, dachte DeRicci. Wir kämpfen dafür, dass keine merkwürdige außerirdische Rasse diesem Kind den Kopf verdreht und es zu etwas macht, das auch kein Wygnin sein wird.
Stattdessen sagte sie: »Sir, ich weiß nicht, was Mrs. Wilder zu Ihnen gesagt hat, aber bitte, vertrauen Sie mir, Sie wollen das Kind nicht sehen.«
»Warum nicht?« Reese sah ihr in die Augen. Er war größer als DeRicci, breitschultrig und muskulös. Er sah eher nach einem Fußballspieler aus als nach einem Anwalt.
»Weil dieses Kind Sie in der Nacht im Traum verfolgen wird, sollten wir verlieren. Sie werden nie wieder imstande sein, die
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