Miles Flint 01 - Die Verschollenen
vor, packte seine Arme und schüttelte ihn wie ein Kind. »Sie sind hinter jedem her, der ihnen in die Quere kommt. Niemand ist davor gefeit. Du kannst das nicht tun. Ich werde es nicht zulassen.«
»Paloma«, sagte er, »ich habe einen Spielraum.«
»So etwas gibt es nicht.« Ihr Griff schmerzte. »Geh weg. Vergiss es. Ich kann dir nicht helfen.«
»Dann werde ich mir jemand anderen suchen, der das kann«, sagte er.
Paloma sah zu ihm hinauf, und ihr suchender Blick schien jeden seiner Gedanken zu erfassen. »Geht es um eine Frau?«
Er schüttelte den Kopf. »Ein Baby.«
»Ein Baby«, sagte sie. »Wie Emmeline.«
Er riss sich los.
»Du darfst nicht alles durch die Brille deines eigenen Schmerzes sehen, Miles. Emmeline ist tot. Kinder sterben. Babys, die von den Wygnin geholt werden, haben ein großartiges Leben. Sie haben nur kein menschliches Leben mehr. Wer immer sie ist …«
»Er«, korrigierte Flint.
»Dann eben wer immer er ist«, sagte Paloma, »sein Schicksal wurde vor langer Zeit von einem sorglosen Verwandten entschieden, der nicht daran gedacht hat, dass seine Taten Folgen haben könnten.«
»Die Gesetze sind falsch, Paloma.«
»Das erzählst du mir? Ich habe mehr gesehen, als du dir vorstellen kannst.« Sie ließ von ihm ab und lehnte sich an den Schreibtisch. Flint hatte das Gefühl, dass sie ihn bearbeitete wie einen ihr unbekannten Klienten.
»Seine Eltern dachten, sie wären in Sicherheit«, sagte Flint. »Und sie sind nicht die Einzigen.«
Dann erzählte er ihr von Disappearance Inc. und von allem, was er und DeRicci herausgefunden hatten.
Paloma fluchte. »Ich habe mich immer gefragt, wie lange es wohl dauern würde, bis einer dieser Dienste erkennt, dass er so viel mehr Profit machen kann. Und natürlich musste es gerade der größte sein.«
»Und der ehemals beste.«
Sie gab einen verärgerten Laut von sich und schüttelte den Kopf. »Der beste Dienst war das nie. Nur der mit der meisten Publicity, was, wenn du darüber nachdenkst, etwas ist, was ein Verschwindedienst eben gerade nicht haben sollte. Wenn sie gut sind, dann helfen sie den Leuten, deine ungerechten Gesetze zu brechen.«
»Das sind nicht meine Gesetze.«
»Das sollten auch nicht die Gesetze irgendeines anderen Menschen sein«, sagte Paloma. »Aber wir haben sie nun mal, und wir müssen uns so lange damit abfinden, wie wir Handel treiben wollen … behaupten jedenfalls die zuständigen Idioten.
Dir ist doch klar, dass die Tatsache, dass diese Leute verraten wurden, nichts ändert. Sie waren immer noch dumm genug, Gesetze zu brechen, die ihnen Ärger mit den Wygnin eingebrockt haben. Wenn du ihnen hilfst, wirst du auch Ärger mit ihnen bekommen.«
»Nicht, wenn die Wygnin nicht erfahren, was ich getan habe.«
»Sie werden es erfahren«, sagte Paloma.
»Hab doch ein wenig Vertrauen zu mir«, entgegnete Flint. »Ich habe wirklich einen gewissen Spielraum.«
»Spielraum«, schnappte sie verächtlich. »Dein Spielraum ist ohne Bedeutung. Bei den Wygnin gibt es keine günstigen Gelegenheiten.«
»Ihr Vollzugsbefehl ist alt«, erklärte er, »und er ist nicht fehlerfrei. Wenn ich die Sache ausreichend in die Länge ziehen kann, könnte ich imstande sein, diesen Leuten Zeit zur Flucht zu verschaffen.«
Paloma starrte ihn an. »Du hast einen Plan.«
»Natürlich habe ich den.«
»Einen Plan, bei dem sie dir nicht auf die Spur kommen und dich nicht beschuldigen können?«
»Ja«, antwortete er, obgleich sein Herz heftig pochte. Er riskierte sein ganzes Leben für ein Kind, das er nicht kannte, für Leute, die ihn nicht kümmerten.
Aber hier ging es nicht um Ennis Kanawa. Hier ging es um Emmeline. Flint riskierte seine Existenz für sie, als wäre sie noch am Leben, so, wie er es getan hätte, hätte er gewusst, dass ihr Leben in Gefahr war.
Weil er hätte wissen müssen, dass ihr Leben in Gefahr war. Er hätte die Zeichen sehen müssen. Auf seine eigene Art war er ebenso am Tod seiner Tochter schuld wie Jamal Kanawa an der Entführung seines Sohnes.
Paloma musterte Flint einen Moment lang von Kopf bis Fuß. Dann verschränkte sie mit gerunzelter Stirn die Arme vor der Brust. »Du bittest mich, dir zu vertrauen, dir zu glauben, dass du schlau genug bist, deine eigene Sicherheit nicht zu gefährden, obwohl so viele andere unter ähnlichen Umständen dazu nicht imstande sind?«
»Genau«, bestätigte er.
Paloma seufzte, griff nach einem Teil ihres Schreibtischs und zog daran. Eine Tastatur kam zum Vorschein.
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