Miles Flint 03 - Die Tödlichen
Erst, als sie die Liste durchging, wurde ihr bewusst, dass sie Palomas Nachnamen nie erfahren hatte.
Glücklicherweise brauchte sie ihn auch nicht. Paloma war lediglich unter diesem einen Namen eingetragen, was die Dinge für DeRicci doch bedeutend einfacher machte.
Der Autoportier verriet ihr auch, dass Paloma zu Hause war, was DeRicci als ersten Lichtblick des Tages verbuchte.
Sie trat in den Aufzug und nannte die Nummer der Etage, auf der Paloma lebte. Die Tür schloss sich, aber der Aufzug rührte sich nicht. Stattdessen forderte eine androgyne Stimme: »Nennen Sie Ihren Namen und den Grund Ihres Besuchs.«
»DeRicci«, sagte sie. »Ich bin wegen einer Morduntersuchung hier.«
Die Stimme antwortete nicht, aber die Kabine begann ihren Aufstieg. Auch die Aufzugwände waren aus Glas und boten ihr einen erhabenen Blick auf den Regolith und die dunklen Felsen der Umgebung. Es war Tag auf dem Mond, was ihr bisher gar nicht aufgefallen war, und die Schatten, die die Felsen warfen, streckten sich kilometerweit dahin.
DeRicci war noch nie über der Mondoberfläche geschwebt, jedenfalls nicht auf so eine Weise, und der Reiz des Neuen nahm sie so sehr gefangen, dass sie beinahe das Klingeln des Aufzugs überhört hätte, als die Tür sich hinter ihr öffnete.
»Officer DeRicci?«
Mit pochendem Herzen drehte sich DeRicci um. Sie hatte ungeschützt mit dem Rücken zur Tür gestanden. So etwas hatte sie seit Jahren nicht mehr getan. Hinter ihr stand eine ältere Frau, die keine sichtbaren Modifikationen hatte vornehmen lassen – ihre Haut war faltig und dünn genug, dass die Blutgefäße durchschimmerten, und ihr weißes Haar umgab ihr Gesicht wie eine Wolke.
Nur ihre Augen wirkten jung; sie funkelten intelligent und waren doch von einer Härte, die DeRicci nervös machte.
»Ich bin inzwischen stellvertretende Leiterin der Ermittlungsabteilung«, sagte DeRicci.
Sie hatte Paloma seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen. Auch früher war sie ihr nur selten begegnet, und meist war Flint der Grund dafür gewesen. Er hatte sie einander vorgestellt und damals anscheinend gehofft, sie würden sich gut verstehen.
Flints Versuch, eine Freundschaft zwischen den beiden Frauen herbeizuführen, hatte nicht geholfen. Wenn überhaupt, dann hatte er dadurch eher zusätzliches Unbehagen hervorgerufen, und was auch immer sich zwischen DeRicci und Paloma vielleicht hätte entwickeln können, hatte sich schon totgelaufen, ehe es geboren werden konnte.
»So ein großer Titel«, sagte Paloma. Sie stand auf der Türschwelle und hatte die Hände auf den Rahmen gelegt, als wolle sie DeRicci den Weg verstellen. »Und nun sind Sie hier, um gegen mich zu ermitteln?«
Mit dieser paranoiden Reaktion hatte DeRicci nicht gerechnet. »Eigentlich bin ich gekommen, um Ihnen ein paar Fragen in Bezug auf einen Fall zu stellen, der mir heute übertragen wurde. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, heißt das.«
»Nur Fragen? Stehe ich unter Verdacht, oder werde ich in Verdacht geraten?«
DeRicci war bisher nicht bewusst gewesen, dass Palomas Haltung ihrem allgemeinen Misstrauen der Obrigkeit gegenüber entsprang. Hatte sie das an Flint weitergegeben? Flint hatte schon zu einer ähnlichen Einstellung geneigt, als er die Truppe verlassen hatte.
»Der Fall hat nichts mit Ihnen zu tun«, erklärte DeRicci. »Ich hatte lediglich gehofft, von ihrem Sachverstand profitieren zu können.«
»Sachverstand? Auf welchem Gebiet?« Paloma hatte sich nicht gerührt, doch ihre Augen schienen noch schärfer zu blicken als zuvor.
»Auf dem eines Lokalisierungsspezialisten.«
Paloma zuckte mit den Schultern. »Ich kann Ihnen nicht helfen. Ich kann nicht über meine frühere Arbeit sprechen. Ich bin zur Diskretion verpflichtet.«
DeRicci erkannte, dass sie nicht sonderlich geschickt vorgegangen war, und schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht wegen Ihrer früheren Fälle oder etwas in der Art hier. Ich möchte Ihnen nur ein paar Fragen darüber stellen, wie es ist, als Lokalisierungsspezialist zu arbeiten.«
»Das sollten Sie Miles fragen«, entgegnete Paloma.
»Ich kann ihn nicht fragen.« DeRicci stand noch immer im Aufzug und fühlte sich zunehmend unbehaglich, wie ein Bittsteller, der einfach nicht angehört wurde. »Er ist vom Mond geflüchtet.«
»Geflüchtet?« Paloma zog die dünnen Brauen hoch. »Miles Flint? Ich wusste nicht, dass er das Wort auch nur schreiben kann.«
»Er kann es vielleicht nicht schreiben, aber er kann es ganz sicher umsetzen.« DeRicci
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