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Mimikry

Mimikry

Titel: Mimikry Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Paprotta
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Worte konnte er sich nicht abgewöhnen, sie waren quasi sein Repertoire, obwohl ihn der arrogante Kissel letztens gefragt hatte, ob er, Hieber, schöne Leichen kenne. Doch als die Henkel vor ihm stand und sagte: »Ich wohne hier«, hörte es auf, Routine zu sein.
    »Wie meinen Sie das?« fragte Hieber.
    »Wie ich es sage. Da.« Sie deutete auf das gegenüberliegende Haus, es sah fast genauso aus, dabei drehte sie sich auf den Zehenspitzen wie eine Ballerina.
    »Sie wohnen –« Hieber nahm seine Mütze ab. »In welchem – darf ich die Etage wissen?«
    »Zweite«, sagte sie und sah dabei aus, als würde sie bedenkenlos alle Fragen beantworten, wieviel wiegen Sie, sind Sie verliebt? Sie sah ihn an, als warte sie auf weitere Fragen.
    »Hier auch«, sagte er. »Zweite Etage. Eine Frau Jung.« Er sah zu, wie sie den Kopf in den Nacken legte und zum Fenster im zweiten Stock blickte. Aber eigentlich sah sie gar nicht hin, hatte die Augen geschlossen. Er hustete. Plötzlich war ihm kalt am ganzen Körper, das war oben schon so gewesen, in der Wohnung, im Schlafzimmer dieser Wohnung. Jetzt, da er ihr Parfüm roch, wurde ihm noch kälter. »Ich muß Ihnen –« fing er an.
    »Auf geht’s«, sagte Stocker.
    »Vis-à-vis«, murmelte Hieber.
    »Ich hab sie gekannt.« Langsam wandte die Henkel sich ihm wieder zu. »Ich wußte aber nicht, wie sie heißt.« Wieder stellte sie sich auf die Zehenspitzen. »Nein, ich hab sie nicht gekannt, ich hab sie gesehen.«
    Hieber sah die Gesichter hinter den Fensterscheiben, sah die Leute, die stehenblieben, und die Autos, die langsamer fuhren. Er hatte sich nicht vorbereiten können. Seine Frau sagte immer, er sei etwas umständlich und wenig spontan. Jetzt müßte er spontan sein und sagen, was er da oben in der Wohnung gesehen hatte, aber man konnte sich ja nicht vornehmen, spontan zu sein. Er fragte die Henkel: »Haben Sie Ihr Schlafzimmer zur Straße?«
    »Lieber Kollege.« Stocker kratzte sich die Schläfe, was Hieber so interpretierte, als zeige er ihm einen Vogel.
    »Entschuldigung«, murmelte Hieber. Er sagte nichts weiter. Sie mußte es selber sehen, da oben.

50
    Knarrende Holztreppen und der Geruch von Bohnerwachs. Vertraut und dennoch fremd. Fremd und drückend. Immer das Fremde, das war es vielleicht; man kam in fremde Häuser und fremde Wohnungen und atmete fremde Gerüche, überall drang man ein, um dann alles zu sehen, das Ende, die Trümmer, Scherben, Reste.
    In der Wohnung ein anderer Geruch. Ina Henkel blieb stehen. Im Halbdunkel hinter der offenstehenden Badezimmertür der weiße Rand einer Wanne und ein gekachelter, naßglänzender Boden. Schmutzige Fußabdrücke überall.
    »Was ist das?« fragte Stocker. »Wonach riecht das?«
    »Ich denke, das ist ein Parfüm«, sagte Hieber hinter ihnen. »Es kommt wohl aus der Wanne.«
    »Fahrenheit.« Sie hob ihr Handgelenk, als wolle sie Hieber schnuppern lassen. »Das hier.«
    »Ja«, murmelte Hieber. »Sie haben es auch.«
    Ein Riß an der Decke. Hellblau gekachelte Wände, ein Bild. Ein verzierter Spiegel, ein Wandschrank, das Becken. Dann sah sie hin.
    Sie lag in der Wanne, Plastik um sie herum. Das Wasser war über den Wannenrand gelaufen. Ihr Name war Jung, das hatte sie nicht gewußt.
    »Der Hahn war nicht ganz zugedreht« sagte Hieber. »Lief dann die ganze Zeit und kam beim Nachbarn durch.«
    Sie steckte in Müllsäcken. Blaue Müllsäcke, die sie bedeckten, aufgeschnitten und wieder zusammengebunden, verschnürt und verklebt.
    Der Raum war voller Blumen. Sie standen in Eimern und Vasen, ein rotweißes Meer. Abgebrannte Duftkerzen auf der Fensterbank, Räucherstäbchen in der Erde einer kleinen Pflanze auf dem Boden, es roch nach Rauch und nach Rosen. Doch über allem schwebte das Parfüm.
    »Ins Wasser geschüttet?« Stocker hustete. »Das gibt’s doch nicht.«
    »Wird aber so sein.« Ina Henkel streifte Handschuhe über. »Irgendwie zuvorkommend, nicht?« Sie bemühte sich, langsam zu atmen. Manchmal nahm sie zuerst Körperteile wahr, sah abgespreizte Arme, ein verdrehtes Bein oder eine Hand. Hier waren es die Augen. Die Frau sah sie an und folgte ihr mit diesem Blick, sie schrie mit den Augen. Blut in den Augenhöhlen, eine schmutzigbraune Kruste, die das Wasser nicht wegspülen konnte. Vielleicht war sie es nicht.
    Im Supermarkt hatte sie einmal um ein Markstück gebeten, stand lächelnd da und fragte: »Könnten Sie wechseln? Ich brauche Lösegeld für den Wagen.«
    Das Gesicht hier war zerschlagen und fremd. Sie

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