Mimikry
sie es ebenfalls tat.
»Den Astra. Das ist mein alter Dienstwagen.« Umständlich fing sie an, ihm die Geschichte ihres eigenen Wagens zu erzählen, eines hübschen kleinen Fiat, den sie ohne Schuld zu Bruch gefahren hatte, weil es Idioten gab, die nachts bei Gelb auf leeren Straßen ganz unvermutet auf die Bremse traten.
»Wer auffährt, hat Schuld«, sagte Hieber.
»Nicht bei Gelb, das ist Quatsch.«
»Na!« sagte er.
Niemand im Aufzug. FICKT EUCH stand auf der Tür und es stank. Die Henkel drückte die 18 und sagte: »Ich hab das eben nicht so gemeint mit den Träumen, das ist Blödsinn.«
Hieber sah auf den Boden, fing an, die ausgetretenen Kippen zu zählen. »Die hat jeder mal.« Sie glaubte ihm nicht, das sah er, als er den Kopf hob. Sie lehnte an der Aufzugswand und über ihr leuchteten die Stockwerke auf, 9, 10, 11. Acht, neun, zehn Kippen auf dem Boden. Hieber bückte sich, riß einen Schnürsenkel auf und band ihn wieder zu.
Im achtzehnten Stock wurde die Wohnungstür geöffnet, noch bevor sie geklingelt hatten. Ein kleiner Mann mit einer großen Brille sagte: »Gott, ja.« Er trug eine Hose, die er bis zur Wade hochgekrempelt hatte, Hosenträger über einem Hemd mit Blümchenmuster. Einen zitternden Arm hatte er angewinkelt, machte kleine Schritte vor und zurück. »Sind Sie das?« fragte er die Henkel. »Soll ich das Ihnen jetzt noch einmal erzählen?«
»Ja bitte«, sagte sie höflich, und er ging vor ihnen her in ein Zimmer mit vergilbten Tapeten. Ein großer Sessel stand vor dem Fenster, und er erzählte, daß er gern da sitze, um ein bißchen Sonne zu tanken. Er deutete zur Decke; manchmal kam die Sonne nämlich von schräg dahinten und wärmte ihn selbst im Winter. Ein Sofa vor einem hohen Tisch, ein Fernseher, eine Stehlampe, eine kleine Kommode mit dem Foto einer lachenden Frau.
»Strenggenommen«, sagte der Mann und deutete auf Hieber, »könnte er es Ihnen erzählen. Aber na ja, wie ich schon gesagt habe, der Herr ist mir begegnet.«
»Dieser Mann?« Die Henkel zeigte ihm Frieds Foto. Hieber roch ihr Parfüm, und es fiel ihm ein, daß seine Tochter dasselbe hatte. Es fiel ihm deshalb ein, weil es ihm zu herb war, zu herb für eine Frau. Seine Tochter hatte gesagt, es sei ja auch für Frauen und Männer, das merke man schon am Namen, One. Hieber fand das nicht richtig. Man sollte es auseinanderhalten können.
»Unten am Briefkasten, ja.« Der Nachbar schob ihnen eine Flasche Mineralwasser hin. »Wo ich nach meiner Post geguckt habe, da hat er mit einem anderen gestanden. Wo ich aber nicht wußte, ob sie im Haus wohnen. Etwas später ist mir dieser Herr dann noch einmal begegnet.« Er legte einen Finger auf das Foto. »Mit Einkaufstüte, wissen Sie?« Er atmete heftig ein und aus. »Ich muß ja auch immer mit diesen Tüten herumlaufen, seit meine Frau nicht mehr ist. Muß ich immer einkaufen und dann vergesse ich die Hälfte und dann muß ich wieder. Ich schreib mir schon auf, was ich brauche, aber ich vergesse auch den Zettel. Meine Frau hat immer alles im Kopf gehabt. Ich kann mir auch nicht viel kochen, also immer nur so Sachen.«
Die Henkel sah den Mann unverwandt an, Hieber fand das in Ordnung. Blickkontakt konnte helfen.
»Griesbrei«, sagte der Mann. »Brauche ich nur Milch zu. Na ja, und den Gries. Trinken Sie doch.«
Es waren keine Gläser da. Die Henkel sah auf die Flasche, dann auf den Boden. Hieber sagte: »Nein, danke.«
»Sie sind im Dienst.« Der Mann lachte. »Na also, wie ich die zusammen gesehen habe, da haben die sich unterhalten und haben dabei vor meinem Briefkasten gestanden. Ich mußte mich bemerkbar machen, wissen Sie? Weil, ich wäre sonst nicht an meinen Briefkasten gekommen. Das ist jetzt so übern Daumen eine Weile her. Es war ja so, ich habe mir beide angeguckt, weil ich dachte, die sind so vertieft in das, was sie sagen, ich mußte mich ja, wie ich schon gesagt habe, mehrmals bemerkbar machen. Wegen dem Briefkasten. Man fährt immer wieder runter, nachher ist gar nix drin.«
»Wie sah er aus?« fragte die Henkel. »Der andere?«
Er holte Luft, wußte nicht recht, so kam es Hieber vor. »Würde sagen: warmer Bruder. In dieser Richtung.«
»Sagen Sie’s genauer?« Die Henkel sah auf seinen zitternden Arm, den er jetzt mit der anderen Hand stützte.
»Parkinson.« Er nickte.
»Sie kennen ihn?«
»Wen?«
Sie kniff die Augen zusammen, dann ließ sie ihr Notizbuch sinken. »Entschuldigung, ich hab’s nicht − ja, okay.«
Der Mann nickte wieder.
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