Mindhunter - Tödliche Gabe (German Edition)
Natürlich nicht. An den überfüllten Bücherregalen war eindeutig zu erkennen, dass Diaz eine Leseratte war. Ein altmodischer Liebhaber echter Bücher. Sehr wahrscheinlich verbrachte er seine seltenen freien Abende still in ein Buch vertieft, anstatt, wie Elliot, an der zigsten Staffel von Let’s Dance zu kleben.
»Ich habe mir diese Scans auch angesehen«, sagte Diaz, während er sich zu dem Sessel begab. »Und versucht, daraus schlau zu werden, und –«
»Tut mir leid«, unterbrach Elliot ihn. »Ich habe meinen Computer nicht dabei und nicht daran gedacht, dass Sie vielleicht keinen Fernseher haben, um sich in den OI-Zentralrechner einzuloggen. Haben Sie, ähm …«
»Oh«, sagte Diaz. »Klar. Ich habe einen Laptop. Natürlich. Moment, ich … Hole ihn.« Er stellte seine Tasse auf einen Untersetzer auf dem Couchtisch und ging zu dem Teil des Raums hinüber, in dem sein ordentlich gemachtes Bett stand.
Er bewegte sich anmutig, mit einer geschmeidigen Effizienz, die nicht hastig wirkte.
All die Jahre, seit Elliot hier arbeitete, hatte er diesem Mann immer gerne beim Gehen zugesehen – was sich vielleicht jämmerlich anhörte oder vielleicht sogar eine Spur pervers, obwohl es das wirklich nicht war. Was hatte Anna Taylor vorhin gesagt? Es war definitiv eine Art Kunstbetrachtung.
Aber es gab Kunst, und es gab Kunst, und er musste wegsehen, als Diaz sich mit einem Knie auf dem Bett hinüberreckte und seinen Laptop von einem Regal angelte, das in die Wand eingelassen war, über dem geschwungenen, hölzernen Kopfende seines Bettes. Elliot hatte genau gewusst, dass sich das Gerät dort befand. Einfach nicht zu fassen.
»Vielleicht sollten wir dazu lieber rüber in mein Büro gehen«, platzte er heraus.
Diaz hatte seinen Laptop bereits mit zum Sofa gebracht, aber jetzt zögerte er, behielt ihn in der Hand, anstatt ihn vor Elliot auf den Couchtisch zu stellen. »Wenn Sie sich dann wohler fühlen –«, begann er.
Elliot unterbrach ihn. » Mir geht’s gut. Na gut, das ist gelogen. Ich bin total neben der Spur. Aber daran würde sich auch nichts ändern, wenn wir in meinem Büro oder meinetwegen auf dem Mond wären. Ich will nur … Stephen, ich will, dass Sie sich wohlfühlen.«
»Wohlfühlen?« Darüber musste Diaz lachen, als er seinen Laptop abstellte, und für einen Augenblick erreichte das Lachen seine Augen. Aber nur kurz. An seine Stelle trat viel zu schnell etwas, das erschreckend nach Selbstverachtung oder gar Abscheu aussah. »Ich bin ein Fünfziger, Doktor. Ich bin nicht hier, um mich wohlzufühlen. Ich bin hier, um zu trainieren«, fuhr er fort. »Ich bin hier, um all meine Energie und Mühe aufzuwenden, um ein Sechziger zu werden und dann vielleicht sogar – irgendwann – ein Siebziger oder mehr. Mein Wohlergehen hat damit nichts zu tun. Das hatte es noch nie. Aber es ist Ihnen gegenüber nicht fair, dass Sie –«
»Mir geht’s gut«, wiederholte Elliot. »Ich wollte nur nicht –«
»Sie haben doch gerade gesagt, dass Sie neben der Spur sind.« Diaz begann, mit kurzen, zackigen Bewegungen auf und ab zu gehen. »Dass Sie wegen mir neben der Spur sind.«
»– dass Sie sich unwohl fühlen«, fuhr Elliot fort und übertönte ihn, »weil wir allein hier in Ihrer Wohnung sind« – er versuchte, die Sache leichter zu machen –, »wo offensichtlich ein paar Fantasien von uns beiden spielen –«
Diaz wandte sich ihm zu, sichtlich verärgert. »Das waren meine Fantasien. Ich habe Ihre Erinnerungen daran gesehen, als ich das zweite Mal in Ihrem Kopf war – in der Halle. Es waren meine, und ich habe sie Ihnen aufgezwungen. Und das wissen Sie.«
Elliot musste lachen. Aufgezwungen? »Glauben Sie wirklich, dass ich nicht selbst schon Tausende beinahe identische Fantasien hatte? Wissen Sie, ich habe diesen einen Traum – der immer wiederkehrt. Und damit meine ich wie ein Uhrwerk, manchmal zweimal in der Woche. Wir sind in diesem wunderschönen Haus in, keine Ahnung – vielleicht Italien? Wir sind mitten in einem Weinberg, und … Was denn?«
Diaz war doch tatsächlich blass geworden, und nun sank er langsam in den Sessel gegenüber von Elliot. »Mittwochs und sonntags«, flüsterte er.
Elliot schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, ich kann nicht folgen.«
»Haben Sie den Traum an diesen Tagen?«, fragte Diaz. »Mittwochs und sonntags schlafe ich nämlich. Ich bin auf zwei Nächte pro Woche runter.«
»Moment mal – was?« Verdammt. War das möglich …? »Aber nein, sind Sie nicht«, sagte
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