Minerva - sTdH 1
verbeugte und
ihr dann die Tür aufhielt. »Gute Nacht, Miß Armitage«, sagte er sanft.
Minervas
graue Augen glitten schnell über sein Gesicht. Seine grünen Augen betrachteten
sie ganz ruhig, und gegen ihren Willen fiel ihr Blick auf seinen schön
geschwungenen, wie gemeißelten Mund, bevor sie ein hastiges »Gute Nacht« in
Erwiderung murmelte.
Sobald sie
in ihrem Zimmer war, wurde ihr klar, daß sie nicht einschlafen konnte. Die
Eleganz Lord Sylvesters und seiner Freunde machte London zu einem
furchterregenden Ort für sie. Wer waren diese hochmütigen Damen in seiner
Begleitung? Hatte er zu einer von ihnen eine nähere Beziehung? War er
verheiratet? Ach, das war doch ganz egal! Um ihrer Geschwister willen mußte sie
sich ständig darin üben, ihre Gedanken auf Höheres zu richten.
Sie zog ein
in Leder gebundenes Büchlein heraus mit dem Titel ›Meditationen über das
Schicksal der Seele‹ und begann zu lesen. Dabei saß sie in einem arg
mitgenommenen Sessel vor dem erlöschenden Feuer.
Obwohl sie
sich sehr bemühte, konnte sie sich nicht konzentrieren. Sie redete sich ein,
daß das nicht an Lord Sylvester lag. Der fürchterliche Lärm, der von der
Schenke unten heraufdrang, hätte ausgereicht, um Tote zu erwecken.
Als die
Turmuhr zwei Uhr schlug, erwachte Minerva. Sie war eingeschlafen.
Sie war
steif vor Kälte. Rasch warf sie eine Schaufel Kohlen auf die schwache Glut und
öffnete den alten Koffer, um ihr Nachthemd auszupacken.
Ein
zerknittertes graues Flanellhemd, eine wollene Nachtmütze und
Herrenunterwäsche lagen vor ihren überraschten Augen.
Zu ihrer
Verärgerung wurde ihr klar, daß der Hausdiener ihr den Koffer ihres Vaters
gebracht hatte und ohne Zweifel ihrem Vater den ihren.
Sie fühlte
sich zerschlagen und unwohl, weil sie in ihren Kleidern geschlafen hatte, und
beschloß nach einigem Zögern, in das Zimmer ihres Vaters zu gehen und die
Gepäckstücke auszutauschen. Trotzdem fragte sie sich, warum ihr Vater die
Verwechslung nicht selbst entdeckt hatte.
Den Koffer
in der einen Hand und die Bettkerze in der anderen, stieß sie die Tür auf und
suchte den schmalen Korridor nach Zimmer zwei ab. Die Zimmernummern waren mit
Bleistift auf die weißgetünchte Wand neben jede Tür geschrieben.
Nachdem sie
den Koffer mehrere Stufen hinauf und mehrere Stufen hinabgetragen hatte, fand
sie Zimmer zwei und öffnete die Tür.
»Papa!«
flüsterte Minerva und ging mit hocherhobener Kerze auf das Bett zu. Es war
leer.
Sie zündete
ein paar Kerzen auf dem Kaminsims mit ihrer eigenen an und sah im hellen
Kerzenschein ihren Koffer neben dem Bett stehen.
Wo mochte
der Pfarrer sein?
Die
Vorhänge waren nicht ganz zugezogen.
Minerva
ging ans Fenster, öffnete es und schaute in den Hof des Gasthauses hinab, der
hell im Mondschein lag.
Sie konnte
zwei Gestalten unter der Lampe erkennen, die über dem Portal zum Hof hing.
Die eine
war ihr Vater und die andere eine Frau. Ihr Vater sagte etwas, und das ordinäre
Lachen der Frau schallte durch die Nachtluft. Dann bückte sich der Pfarrer zu
seiner Begleiterin herab, gab ihr einen herzhaften Kuß und einen Klaps auf den
Hintern.
Er rief
»Gute Nacht« und kam auf das Haus zu.
Minerva
machte ein paar Schritte weg vom Fenster.
Jetzt
begriff sie, warum ihr Vater – scheinbar im letzten Moment – rätselhafterweise
zwei Zimmer und einen privaten Salon nur wegen des Pferdemarktes gemietet
hatte. In Wirklichkeit hatte er sie schon lange reserviert. Die ganze Sache war
so geplant, daß sie wie ein plötzlicher Einfall wirkte. Seine älteste Tochter
hatte er nur zur Tarnung mitgenommen. Er war mit einer Dame aus der Stadt verabredet.
Minerva
wußte, daß ihr Vater ihrer Mutter manchmal untreu war. Männer waren nun einmal
so. Aber nie vorher war sie wirklich Zeuge gewesen.
Sie fühlte
sich verloren, aufgewühlt und verletzt. Sie wollte ihren Vater nicht sehen,
wenn er heraufkam.
Schnell
ergriff sie ihren eigenen Koffer, blies die Kerzen auf dem Sims aus, nahm ihre
Bettkerze und eilte den Gang zurück, den sie gekommen war. Sie dachte schon,
sie würde ihr Zimmer nie wieder finden, als sie endlich eine etwas wacklige
Sechs an der Wand sah; und mit einem Seufzer der Erleichterung ging sie in das
Zimmer.
Ihre Nerven
waren jetzt aufs äußerste angespannt. Sie ließ es bei einer flüchtigen Wäsche
bewenden, wobei sie feststellte, daß die Wasserkrüge nur halb voll waren und
die Handtücher feucht. Am nächsten Morgen wollte sie sich wegen
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