Mira und die verwunschenen Kugeln (German Edition)
flatterten. Sie atmete die Luft und wurde immer leichter, und ehe sie sich’s versah, war sie kein Mensch mehr. Zu einem Vogel war sie geworden und zog durch die Lüfte. So konnte sie die Stadt von oben sehen. Die sonnenbeglänzten Dächer der Häuser, den dunklen Fluss mit seinen vielen Armen. Die Menschen klein wie die Ameisen. Sie flog durch die Wolken und spürte, wie der Nebel ihr Gefieder kitzelte, und ihr Herz war wild und frei.«
»Ach«, dachte Mira, als das Silbermännchen so sprach, »wie gerne würde ich selbst wieder fliegen!«
Sie seufzte laut und vernehmlich und das Silbermännchen warf ihr einen langen Blick zu.
»Doch so frei und glücklich sie war, wenn sie flog, so verzagt war sie, wenn sie sich wieder in einen Menschen verwandelt hatte. Denn niemandem konnte sie von ihren Ausflügen erzählen.
Ihre Mutter schrak jedes Mal zurück, wenn sie auch nur eine Andeutung machte, und ihr Vater hätte sie bei dem leisesten Verdacht kurzerhand in ihrer prächtigen Kammer eingesperrt. Denn zu jener Zeit war nichts schlimmer, als der Hexerei verdächtigt zu werden. Es kostete einen das Leben.
So wandte sich das Mädchen immer mehr von den Menschen ab.
Bald waren die Einzigen, mit denen sie noch sprach, die Figuren an den Brunnen und an den Häuserwänden. In ihrem Herzen wurde es stiller und einsamer. Das verzweifelte Verlangen, sich jemandem anzuvertrauen, wuchs, doch keiner war wie sie und keiner konnte sie verstehen.«
Das Silbermännchen machte eine kleine Kunstpause und Mira konnte nur noch das Gluckern des Wassers zu ihren Füßen vernehmen. Wie gut sie dieses Mädchen verstand!
»Und so vergingen die Jahre und das Mädchen wuchs zu einer schönen jungen Frau heran.
Eines Tages kamen Gaukler in die Stadt. Eine bunte Truppe von Theaterleuten, die – so wie es damals üblich war – mit einem kleinen Karren durch die Lande zogen und hofften, mit ihren Aufführungen den einen oder anderen Gulden zu verdienen. Sie hielten auf dem Rathausplatz und bauten dort ihre Bühne auf.
Schon da fiel dem Mädchen einer der Gaukler besonders auf. Er war zierlich, und sein Gesicht war so klug und ebenmäßig, wie das Mädchen es noch niemals zuvor gesehen hatte.
Heimlich, obwohl ihre strengen Eltern es ihr nicht erlaubt hatten, schlich sie sich zu der Vorstellung. Der junge Mann hatte sich ein glitzerndes Kostüm angezogen und spielte zur Belustigung der Menge einen Feuer speienden Drachen. Er war großartig, besser als alle anderen Schauspieler, und als er das Mädchen in der Menge erblickte, spielte er nur für sie.
Als das Stück zu Ende war und die umstehende Menge applaudieren wollte, verwandelte sich der junge Gaukler mit seinem glitzernden Drachenkostüm plötzlich in eine Krähe und flog davon. Alle staunten und tuschelten, nur das Mädchen stand stumm. Es gab also noch jemanden, der so war wie sie!
Und plötzlich überkam sie ein Gefühl, dass sie so zuvor noch nicht gespürt hatte. Sie war verliebt.«
»Oh«, sagte Mira.
Das Silbermännchen seufzte und hielt für einen Moment inne. »Die Gaukler jedenfalls blieben viel länger als geplant. Unddas lag nicht daran, dass die Bewohner dieser Stadt besonders freigiebig gewesen wären.«
Das Silbermännchen grinste. »Das waren sie noch nie. Nein, der junge Gaukler suchte eine Möglichkeit, das Mädchen wiederzusehen. Als er sie bei der nächsten Vorstellung in der Menge erblickte, sprang er von der Bühne und nahm ihre Hand. Sie spürte, dass er ihr etwas zusteckte, und als sie später auf dem Heimweg ihre zitternde Faust öffnete, sah sie, was es war. Eine kleine Karte.
Das Mädchen las verwundert, was darauf geschrieben stand, und als dann der Wind über das Papier strich, entstieg der Karte ein Geistwesen.«
Das Silbermännchen klopfte versonnen seine Pfeife aus. »Und dieses Geistwesen trug dem Mädchen die schönste Liebeserklärung vor, die es je gehört hatte.«
»Dann hatte sich das Geistwesen also in das Mädchen verliebt?«, fragte Rabeus verwirrt.
Das Silbermännchen verdrehte seine Augen. »Nein, natürlich nicht! Es handelte im Auftrag seines Herrn, des Gauklers!«
»Und ein Geistwesen würde sich ja auch nicht verlieben«, ergänzte Mira und sah Rabeus an.
»Du magst es vielleicht nicht glauben, aber auch wir Geistwesen haben Gefühle!«, warf das Silbermännchen spitz ein.
»Dann stammte das Gedicht also von dem Gaukler und das Geistwesen hat es nur vorgetragen?«, fragte Mira.
Das Silbermännchen war nun ganz blau und
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