Mirad 03 - Das Wasser von Silmao
alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Alle bis auf eine.
Ergil.
Er war, auch wenn sie ihm das nie so direkt gesagt hatte, der mächtigste Sirilo, den sie kannte. Mittlerweile glaubte sie sogar, er sei der Hilfe des Netzlings entwachsen. Nisrah hatte ihn gestützt wie jemand, der nach einem Beinbruch vorübergehend eine Krücke benutzt, aber nun war aus Vanias Sohn etwas Größeres geworden, das Múria bei ihrer ersten Begegnung im Seeigelhaus nicht gesehen hatte. Ja, wenn einer die Fähigkeiten besaß, in diesem Krieg das Blatt zu wenden, dann er. Nur leider war er nicht abkömmlich. Er musste mehr retten als ein Land. Konnte sie es verantworten, ihm einen Botenfalken zu schicken?
Konnte sie es andererseits verantworten, ihm in dieser verzweifelten Lage keinen zu schicken?
Sie würde es tun. Noch heute. Sobald sie wieder unten war. Der Junge hatte weise Ratgeber – sie spürte einen Anflug von Sehnsucht, weil sie Jazzar-fajim mehr vermisste, als sie es in ihrer Trauer um Falgon für angemessen erachtete – und außerdem war Ergil alt genug selbst zu entscheiden.
Bei diesem Gedanken regte sich Múrias schlechtes Gewissen. Wohl auch, weil sie sich der ihr von Ergil auferlegten Aufgabe manchmal kaum gewachsen fühlte, suchte sie die Einsamkeit auf der Spitze des Knochenturmes. Ähnlich wie damals, als sie sich nach dem vermeintlichen Tod ihrer besten Freundin und ihres Ehemannes in die Seeigelwarte zurückgezogen hatte. Andere sahen in der Freiheitskämpferin und Geschichtsschreiberin nur die starke, weise Frau, die jede auch noch so schwere Last schultern konnte, aber in ihrem tiefsten Innern kam sich Múria oft unbedeutend vor und schwach. In solchen Momenten suchte sie gerne die trügerische Leichtigkeit, die einen berauscht, wenn man unter sich die Welt schrumpfen sieht und vorübergehend glaubt, alle Probleme seien genauso klein.
Außerdem fühlte sie sich hier oben ihrer dahinsiechenden Gefährtin aus dem Alten Volk am nächsten. Wie oft hatte Múria in den letzten Wochen ihr Versäumnis bereut, Ergil nicht nach dem Geheimnis des »Übergangs« gefragt zu haben! Weder im Geiste noch körperlich konnte sie wie er die Zwischenwelt aufsuchen, um Vania Beistand zu leisten. Das schmerzte sie, hatte sie Baroq-abbirim doch einst versprochen, gut auf seine Tochter aufzupassen.
Der Schatten dieses Gedankens verdüsterte für einen Augenblick ihre Stimmung noch mehr. Alles war so ungerecht! Sie überlegte, ob ihre Kraft ausreichen würde, das Schiff mit den albernen Streifensegeln zu versenken. Die Bark war ziemlich weit entfernt, aber eine rasche Alterung des Holzes unter der Wasserlinie, so groß wie ein dickes Astloch, ließe sich vielleicht doch bewerkstelligen, wenn…
»Hör sofort damit auf!«, befahl sie sich barsch und erschrak über ihre eigene Stimme. Eigentlich verabscheute sie sinnloses Töten genauso, wie ihre Schüler Ergil und Twikus es immer getan hatten. An der Übermacht des Feindes würde es ohnehin nichts ändern, wenn sie den Dreimaster mit allen Seelen darauf auf den Meeresgrund schickte. Und am Ausgang des Soodlandkrieges schon gar nicht.
Sie ließ den Fahnenmast los, raffte ihren flatternden Umhang zusammen, wandte der quer gestreiften Bark den Rücken zu und begab sich zu der geländerlosen Treppe, um sich an den Abstieg zu machen.
Wäre eine schwere Goldmünze, die Múria auf ihrem Weg nach unten zufällig verloren hätte, senkrecht in den Burghof und dort in ein, ebenfalls zufällig vorhandenes, Bohrloch gefallen, dann wäre sie genau vor die Füße einer dunklen Gestalt geklimpert, die – rein zufällig – in diesem Moment mit langen Schritten durch die von Fackeln nur spärlich beleuchteten Gänge des Verlieses im Innern der Klippe eilte. Die Person, deren Kopf unter einer Kapuze verborgen und deren stattlicher Körper in einen Mantel gehüllt war, hätte dem Klappern keine Beachtung geschenkt. Denn ihr Geist wandelte ebenfalls durch ein Labyrinth, einen noch viel finstereren und trostloseren Irrgarten, was ihn für den verlockenden Schimmer des Goldes unempfänglich machte.
Wenig später bog der Kerkerbesucher nach rechts in einen schmaleren Tunnel, an dessen Ende er auf vier Posten der königlich-soodländischen Leibgarde traf. Einer von ihnen, eine schlaksige Bohnenstange von gerade achtundzwanzig Jahren, trat an den Besucher heran und hob seine Laterne, um das Dunkel unter der Kapuze mit Licht zu füllen.
»Ihr seid fast so regelmäßig wie der Wachwechsel, Herr. Ich
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